Trainieren für Democratien

Es sind so viele Faktoren, die auf die Entwicklung einer Person Einfluss nehmen. Hinter diesen Faktoren erkannten beobachtende und reflektierende Menschenkenner drei bestimmende Sphären oder Einflussfelder. Sie unterschieden

  • Körper als die biologische, materielle Erscheinung des Menschen
  • Geist als Verstandeskraft, die Welt denkend zu erfassen, zu durchdringen und zu gestalten
  • Seele als Empfindungskraft, die Freude, Trauer, Liebe, Hass und die ganze Welt der Emotionen umfasst.

Dass diese drei Sphären vielfältig und vielfach miteinander verbunden sind und sich gegenseitig durchdringen, gehört heutzutage zum Allgemeinwissen. Erkrankungen wie Heilungen wirken sich auf Empfinden und Denken der betroffenen Person aus. Sie können sogar dort ihre Wurzeln und Auslöser haben. Resonanzverweigerung, wie sie im Mobbing erlebt wird, kann Depressionen, Desorientierung und organische Erkrankungen auslösen. Zuwendung und Wertschätzung der Resonanz wiederum kann solche Zustände heilen.

Ein Knochenbruch braucht die mechanische Ruhestellung des betroffenen Skelettbereiches, aber auch die personale Zuwendung zu dem leidenden Menschen. Die Verbindungen und Durchdringungen der verschiedenen Sphären darzustellen, nutzte der Sozialphilosoph und Strukturalist Johannes Heinrichs (*1942) erstmals die Eulerischen Kreise der Geometrie. Heinrichs definierte und qualifizierte somit sieben unterschiedliche Einflussbereiche. [1]

Eulersche Kreise 1

Meines Erachtens lässt sich dieses Schnittmengen-Modell auch auf jenes Phänomen anwenden, welches wir „Gesellschaft“ nennen. Dabei werden die individuellen Sphären von Körper, Geist, Seele analog übertragen auf Zustände, Verfahren, Gesinnung.

Analog Körper_Geist_Seele

Ebenfalls ergeben sich sieben verschiedene Bereiche, aus denen heraus Akteure und Initiativen gestaltenden Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft nehmen.

 Eulersche Kreise

Z Gestaltung der ökonomischen, materiellen Situation
V Gestaltung der Beratungs- und Entscheidungswege
G Wertorientierung zu den gesellschaftlichen Situationen und Entwicklungen
Z2/G2 Gestaltung der Zustände entsprechend einer bestimmten Wertorientierung
V2/Z4 Gestaltung der Zustände durch Entscheidungsverfahren
V4/G4 Gestaltung der Entscheidungsverfahren aufgrund bestimmter Wertorientierungen
G3/Z3/V3 Gestaltung der Entscheidungsverfahren aufgrund von Wertorientierungen zur Veränderung der Zustände

In jedem dieser sieben Felder sind Akteure mit jeweils sehr unterschiedlichen, häufig gegensätzlichen Interessen engagiert, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Es gehört wohl zu den typischen menschlichen Verhaltensweisen, sich nicht allzu sehr in komplexen und komplizierten Zusammenhängen zu engagieren. Erst wenn und nur da, wo der Schuh drückt, werden Kräfte mobilisiert. Den Druck zu mindern, verfallen allzu viele leicht dem Lockruf einfacher Lösungen. Muss denn immer alles so kompliziert sein? Geht das nicht einfacher und schneller? Vor allem, wenn Menschen in großer Zahl für eine bestimmte Idee gewonnen werden sollen, werden diese Idee als “schnell und einfach” vermittelt. Ein knapper Slogan, wie Instant-Suppe aufbereitet, muss dann als Motivationshäppchen reichen. Vollwertkost bräuchte ja auch zu lange Kau- und Verdauungszeiten. „Gehen wir den Weg!“ wird dann zum Schlachtruf, ohne den Weg zu beschreiben.

  • Gehen wir den Weg: von Lowick, über Bocholt nach Borken.
  • Gehen wir den Weg: von Borken über Düsseldorf nach Berlin.
  • Gehen wir den Weg: von Berlin über Brüssel nach New York.

Drei einfache Sätze, identisch in Grammatik und Satzaufbau. Jedem Menschen, der über einfache geographische Kenntnisse verfügt, wird bei gesundem Menschenverstand umgehend die mit jedem Satz steigende innere Komplexität bewusst. Nehmen wir das „Gehen wir den Weg“ wörtlich, sind die knapp 20 km Fußweg aus dem ersten Satz als Tagesetappe gut realisierbar. Die über 650 km benannte Distanz des zweiten Satzes stellt bereits weit höhere Anforderungen. Bei Satz drei ist die Idee eines Fußweges nicht mehr nachvollziehbar.

In gleicher Weise haben wir es mit einer Steigerung der Komplexität zu tun, gingen wir den „Weg politischer Mitgestaltung“ vom konkreten Lebensraum (Lowick) bis zur globalen Verantwortung (New York, UN). Komplexe Analysen und Lösungsstrategien schrecken eher ab, als dass sie Zustimmung und Unterstützung finden. Um Zustimmung für die eigenen Ziele zu erhalten, behaupten Akteure dann gern, ihre Lösung sei einfach und simpel: es reiche, die ersten Schritte zu tun, der Rest ergäbe sich dann schon. Statt die Komplexität durch sinnvolle Differentierung zu bewältigen, greifen sie zur Banalisierung. Einfache Slogans erzeugen so eine Stimmung, die die Interessen dieser Akteure in den Mainstream hievt. Derartige Akteure finden sich in der gesamten politischen Farbskala.

Täte man Jenen, die den Weg mitgehen sollen, wirklich einen Gefallen durch ein Verschweigen der steigenden Komplexität?  Wäre es nicht sinnvoller, den Umgang mit solcher Komplexität zu trainieren? Das Versprechen einfacher und simpler Lösungen gleicht dem Versuch, einen fettleibigen, übergewichtigen Couch-Potato aus seiner Wohlfühlzone auf die Marathonstrecke zu bringen. Ohne Trainingsplan, allein mit dem Hinweis: „Das wird schon!“

Andere Akteure konzentieren sich auf nur eine Einflusssphäre, reduzieren dabei die gesellschaftliche Wirklichkeit und entwickeln interessante Lösungsansätze, die jedoch monokausale Teillösungen bleiben.

Da finden wir Verfahrensreformer mit Bestrebungen für neue Mitbestimmungsformen wie Volksbegehren und Volksabstimmung, die mit den Zielen „direkte Demokratie“ oder „regionale Neugliederung“ um die Umgestaltung der Gesellschaft werben.  Können sie auf die ausreichend breite Kultivierung demokratischen Verhaltens der Bürger zurückgreifen, die notwendig ist, auf diesem Weg die erwünschte Veränderung der Zustände herbeizuführen?

Da finden wir Zuständereformer, die ihre Lösungskonzepte gründlich ausarbeiten, um sie den politischen Entscheidungsträgern gestärkt mit Unterschriftenlisten als Forderungen vorzulegen. Wie stellen sie sicher, dass ihre Konzepte auch von Mitbürgern anderer Wertorientierungen und Weltanschauungen getragen und akzeptiert werden? Wie gehen sie damit um, dass ihre Konzepte regelmäßig in parteilichen und parlametarischen Beratungen zermahlen werden, sofern sie es überhaupt auf die Tagesordnung schaffen?

Da finden wir Gesinnungsreformer, die eine moralische und ethische Verantwortung von Führungskräften einfordern. Die Frage, wie solche Führungskräfte in ihre Positionen kommen, wie ihr Führungsauftrag definiert und legitimiert wird, bleibt allerdings offen.[2] Andere vertrauen darauf, dass bereits persönliche Einstellungsänderungen gesellschaftliche Machtstrukturen und Zustände beeinflussen. Doch haben die viele Millionen gespülter und getrennt entsorgter Joghurtbecher die Verseuchung der Umwelt verhindert? Konnten Selbstfindungsgruppen und Dialogforen in Stuhlkreisen auf Waffenexporte, Verarmung ganzer Völker oder Agenda 2010 Einfluss nehmen?

An anderer Stelle hatte ich die fiktiven Gesellschaften „Monetanien“ und „Democratien“ beschrieben.[3] Der Auszug vom moneytheistischen, profitorientierten Monetanien in ein solidarisches, gemeinwohlorientiertes Democratien ist keineswegs eine einfache, simple Kaffeefahrt. Es reicht nicht, den Versprechungen politischer Rheumadecken-Verkäufer zu folgen, einfach in den Bus einzusteigen uns sicher angeschnallt weiter zu träumen von der „Gans, die goldene Eier legt“.

Euler MonetanienEuler Democratien

 

Solcher Umzug ist ein Kulturwandel und ein langer, steiniger Weg mit vielen Etappen. Diesen Kulturwandel können wir mitgestalten und vorantreiben. Die bewusste Einübung und Entfaltung staatsbürgerlicher Kompetenzen als „Choreographie gesellschaftlicher Dilemma-Lösungen“ [4] kann in der Sphäre G3/Z3/V3 das nötige Energiefeld schaffen, um eine Gesellschaft von „Monetanien“ zu „Democratien“ zu verwandeln. Es liegt an uns, ja auch an Ihnen, liebe Leser, ob wir nur unserer Sehnsucht frönen oder unsere Fähigkeiten entfalten und die Fertigkeiten vertiefen, damit der Umzug gelingt.

Hundert Menschen schärfen ihren Säbel, Tausende ihre Messer, aber Zehntausende lassen ihren Verstand ungeschärft, weil sie ihn nicht üben.

Johann Heinrich Pestalozzi, Schweizer Pädagoge, Sozialreformer und Politiker 1746-1827

Den demokratischen Verstand zu schärfen, Verfahren moderner Demokratie einzuüben, sich auf gemeinsame Werte zu verständigen und daraus politisches Handeln zu legitimieren – derartige Choreographie zu trainieren lohnt.

Es lohnt der Würde wegen.



[1] Johannes Heinrichs, Integrale Philosophie, Academia 2014, S. 53 und J.Heinrichs/K.P.Sternmann, Enneagramm, Beltz 2015 Ebook Pos. 372
[2] Hülkenberg, Empörung allein schafft kein Gemeinwohl, tredition 2012, S.68
[3] Hülkenberg, Nur mal angenommen… …Demokratie ginge anders, tredition 2015, S.69ff. und 250ff
[4] a.a.O. S. 187

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