Im bundesweiten Wettbewerb “Zukunftsstadt 2030“ errang Bocholt einen der hochdotierten Siegerplätze. Auch gibt es ein im Wettbewerb gefördertes Zukunftsbüro.
Die zum Wettbewerb erstellten Bürgergutachten bieten allerdings wenig Perspektiven, wie sich Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik den prognostizierten Wahrscheinlichkeiten der kommenden 30 – 50 Jahre stellen wollen.
Die Jahreszahlen 2050 und 2072 könnten den Horizont solcher Zukunftsorientierung markieren.
- Für 2050 liegen fundierte Modellberechnungen über die Folgen der längst stattfindenden Klimaerhitzung vor. (siehe: Nick Reimer/ Toralf Staudt: Deutschland 2050, Kiepenheuer&Witsch, Köln 2021)
- Im Jubiläumsjahr zur Stadterhebung Bocholts vor 800 Jahren, ließe sich die Frage nach der Lebensqualität in der Stadt zur Zeit der 850-Jahrfeier (2072) aufwerfen.
Doch die debattierten Zukunftspläne erreichen solche Horizonte bei weitem nicht. Im hiesigen öffentlichen Diskurs ist der Begriff „Zukunft“ eher zu übersetzen mit „mittelfristig optimierte, verlängerte Gegenwart“. Selbst die „Optimierung“ ist konzentriert auf „Renovierung und Wiederherstellung“ (z.B. Rathaus, Schulen, weitere Stadtimmobilien), „Umsetzung vor Zeiten gefasster Beschlüsse“ (Nordring) oder „dem Marketing förderliche Verbesserung des städtischen Erscheinungsbildes“ (Ravardiviertel).
Von einem gemeinsamen, gesellschaftsprägenden Zukunfts-Narrativ ist in Bocholt wenig zu spüren. „Bokelt baut wer up“ – dieser Leitsatz vereinte nach den Bombenangriffen vom März 1945 die Bürger der zerstörten Stadt unter der Führung ihrer Oberbürgermeister Dr. Benölken (1945-1946) und Otto Kemper (1948-1964). Bis 1962 dauerte diese Kampagne zum Wiederaufbau von Infrastruktur, Industrien und Wohnraum. Sie steht für eine gesamtgesellschaftliche Leistung der Bürger.
Eine Voraussetzung dieser Gemeinschaftsleistung war die reale Sichtbarkeit der zerstörten Stadt, das Erleben der Schrecken und das Be-Greifen des Engagements. Die Bürger konnten handfest anpacken und mit jedem Griff dessen konstruktive Wirkung spüren.
Dagegen sind die wahrscheinlichen, bereits kalkulierten Schäden an der Infrastruktur und die erkennbaren Folgen für Leib und Leben der Bürger durch die Klimaerhitzung vorerst „nur“ abstrakte Perspektiven. Viele Bocholter Bürger lassen sich von diesen Perspektiven beeindrucken. Sie sind in unterschiedlichen Themennischen engagiert und lassen sich als auf Nachhaltigkeit, Solidarität und Gemeinwohl ausgerichtete Akteure ausmachen.
Trotzdem prägen nicht sie das vorherrschende gesellschaftliche Milieu dieser Stadt. Kennzeichnende Kernelemente des in Bocholt vorherrschenden Milieus sind noch „Selbstzufriedenheit und Nörgeln am Nicht-Gewollten“.
Mir drängen sich Vergleiche zum Biedermeier auf, einer prägenden Epoche des frühen 19. Jahrhunderts. Wie heute in der EU ging es politisch um die Neuordnung Europas. Der Wiener Kongress (1814-1815) hatte nicht nur getanzt, sondern die Mächte neu verteilt. Die Karlsbader Beschlüsse (1819) sorgten mit strenger Zensur und Unterdrückung politischer Äußerungen für „Ruhe und Ordnung“ im lieben Vaterland. Die überwiegende Mehrheit der Bürger zog sich ins private Leben, in Familie und Haus zurück. Widerspruch und Revolte vieler Bürger formte sich als Epoche des Vormärz.
Zensur und Unterdrückung politischer Äußerungen brauchen wir heute nicht mehr zu fürchten. Der Rückzug ins traute Private folgt nicht mehr äußerem Druck. Anders als die Vormärz-Revolutionäre brauchen wir die Obrigkeit nicht mehr zu fürchten. Lähmend ist vor allem die rasant gestiegene Komplexität aller Themenfelder in Politik, Wirtschaft und Sozialleben. Diese dynamische Komplexität wird vielfach als Kompliziertheit und Überforderung erfahren. Dann bietet sich das „Private“ als vermeintlich einfach und überschaubar an. Zugleich ist schon das „Private“ hochkomplex, es ist bereits aufreibend, die eigene Komfortzone zu sichern. So lockt es nicht, sich das eigene Leben zu überlasten mit Zukunftsfragen und -strategien.
Das vom Stadtmarketing verantwortete Jubiläumsprogramm bedient pointiert diesen Wunsch nach Wohlgefühl. „Wir möchten … ein WIR-Gefühl erzeugen durch positive gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen“ bekundet die Wirtschaftsförderungs- und Stadtmarketing Gesellschaft Bocholt mbH & Co. KG im Geleitwort des Programms. Vor allem bietet das Festjahr eine große Chance, „die Stadt Bocholt über die Stadtgrenzen hinaus positiv sichtbar zu machen.“
Bürgermeister Thomas Kerkhoff lobt in seinem Grußwort zum Programmheft, „Das bunte Programm führt uns den Ideenreichtum und die Kreativität unserer Stadt vor Augen und zeigt, was in der Gemeinschaft geleistet werden kann.“ Ist da nicht auch die Überlegung angebracht, wie Ideenreichtum und Kreativität der Gemeinschaft beitragen können, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern?
Im Foyer des einstigen Stadtarchivs an der Münsterstrasse verwies die Bronzeplatte mit dem Januskopf auf den Doppelsinn von Rückblick und Ausblick. Das Stadtarchiv wurde zum Studentenwohnheim umgebaut, die Bronzeplatte wahrscheinlich eingelagert. Die Symbolik des Janus kam wohl aus dem Blick, im Jubiläumsprogramm jedenfalls fand sie kein Echo.
So verbreitet das Jubiläumsprogramm einseitig das Image selbstzufriedener Biedermeierlichkeit. Als wäre dies das tragende Milieu dieser Stadt, bleiben die weiteren in Bocholt existenten und engagierten sozialen Milieus vernachlässigt.
Eine wichtige Chance wurde vergeben. Das Stadtjubiläum hätte für die Akteure einer zukunftstüchtigen Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlstrategie zu einer öffentlichen Komm-Vor-Zone werden können. Dass im Auftrag der Stadt 800 Bäumchen gepflanzt werden, wiegt diese vergebene Chance nicht auf. Die ungebrochene Politik verdichtender Urbanisierung und Landschaftsversiegelung führt schon derzeit bundesweit zu massivem, anhaltenden Sterben der Stadtbäume. Die zukünftige Überhitzung der Städte bei gleichzeitigem Wassermangel lässt fraglich werden, wieviel der 800 Jubiläumsbäumchen zum nächsten Stadtjubiläum noch stehen.
Zum Image der Zukunftstüchtigkeit trägt das Bocholter Jubiläumsprogramm nicht bei. Wie bei Janus hätte der Blick nicht in Geschichte und Gegenwart verweilen dürfen, sondern den Fokus auch auf die Herausforderungen der Zukunft richten müssen. Zukunftsbezogene Kreativität und Ideenreichtum der Bürger hätten vor allem im Jubiläumsjahr ihren Raum zur Entfaltung verdient.
Gemeinsam mit den verschiedenen Bildungsträgern, Initiativen und Vereinen ließe sich der Umgang mit dynamischen Komplexitäten trainieren. Gemeinsam, unter den Augen der feiernden Öffentlichkeit, ließen sich Handlungsstrategien entwickeln, welche Handlungsmöglichkeiten nicht einengen, sondern weiten. Kooperative Choreographien zur Lösung der anstehenden klimapolitischen Dilemmata ließen sich einüben, in der notwendige Regelungen von breiter Akzeptanz getragen würden.
Das städtische Jubiläumsprogramm bietet für solche Überlegungen keine Komm-Vor-Zone.
Doch nur mal angenommen, die aufgeschlossenen, engagierten und kreativen Bürger würden selbst aktiv und schafften sich ein eigenes Forum.
Der Stadt, den Bürgern und ihrer Zukunft würde es gut tun!
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