„Gehe langsam!“ hatten die Freunde mir beim Pilgersegen mit auf den Weg gegeben. Diese Aufforderung zählt zu den Geh-boten, die in einer französischen Pilgerkirche seit Jahrhunderten in Stein gemeißelt sind.
Doch was ist langsam? Mit dem Rucksack auf dem Buckel ist mein Geh-Tempo ohnehin geringer als beim Weg zum Einkauf in die Stadt. Nach und nach fand ich meinen Schritt und drosslte ihn noch weiter. Dabei merkte ich: „Langsam bin ich dann, wenn mir die anderen schnell scheinen!“ Überholte mich eine alte Dame mit ihrem halblahmen Dackel, dann war ich im richtigen Tempo. 3,2 bis 3,6 km/h zeigte mir dann meine Wander-App als Durchschnittstempo an.
Andere Geher und Fußgänger wirken als schnell, Jogger und Walker eilen die Wege entlang. Die Motive mögen unterschiedlich sein,
doch sie vermitteln das Bild von „Viel Weg in der Zeit“ – effiziente Zeitnutzung scheint das Leitmotto.
Rasant wird es, wo Menschen ihre Bodenhaftung aufgeben und die eigene Fortbewegung durch technische Apparate potenzieren. Die Steigerungsstufen dazu sind:
- Antriebe durch eigene Muskelkraft wie bei Rollern oder Fahrrädern
- technische Antriebsunterstützung bei E-Bikes
- motorgesteuerte Antriebe ohne körperliche Eigenbeteiligung in den Kraft-Fahrzeugen aller Gattungen und Geschwindigkeitsklassen.
Die Taktung unseres Lebens hatte beständig zugenommen. Selbst jetzt im Corona-Lockdown pulsiert sie weiter – allerdings sind ganze Lebensbereiche ausgegliedert und per Verordnung auf Null gesetzt. Eilige Hektik und verordneter Stillstand stehen unversöhnt nebeneinander. Perspektiven einer lebensförderlichen Entschleunigung mit Muße-Zonen und entspanntem Chillen verschwinden eher, als sich auszuweiten.
Als Langsamgeher bekomme ich ein Gespür, wie sich Michael Endes Romanfigur Momo vermutlich gefühlt hat, als die Schildkröte Kasiopeia sie vor den hektisch suchenden grauen Männern schützend zu Meister Hora, dem Herrn der Zeit, führte.
Als „Herr der Zeit“, als personifizierte Lebenszeit hatten griechische Mythologien von Chronos berichtet. Unser Wortschatz von Chronometer über Chronik bis chronisch wurzelt in diesem mythischen Bild.
Aus der Langsamkeit wirkt die eilige Gesellschaft um mich herum wie ein Zeitraffer. Die Zeit erscheint als ein begrenztes Maß, welches wir meinen, mit möglichst viel Leben füllen zu müssen. In dieser Lebensgier raffen wir Erlebnisse, Events und Action.
Bei dieser Lebens-Geschwindigkeit übersehen wir allzu oft jene andere Figur aus griechischer Mythologie, die als Personifizierung der Gelegenheit gilt. Mit einer Stirnlocke bei ansonsten kahlem Schädel huscht Kairos durch die Zeit, nur denen zu Diensten, die die „Gelegenheit beim Schopf fassen“.
Mein langsames Gehen als Pilger machte mir deutlich: Je weniger Macht ich Chronos übergebe, umso mehr Gelegenheiten bieten sich. Ohne Zeitdruck lassen sie sich beim Schopf fassen, bereichern das Leben und geben ihm eine andere Art der Fülle.
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