RERUM NOVARUM – dem „Geist der Neuerung“ widmete Papst Leo XIII. am 15. Mai 1891 seine Enzyklika über die Arbeiterfrage. Katholische Kirche und ihre Sozialverbände feiern dieses Schreiben als erste Sozialenzyklika und Ausgangspunkt einer nun 130jährigen Tradition Katholischer Soziallehre.
Doch hatte nicht schon Benedikt XIV. am 1. November 1745 in der Enzyklika VIX PERVENIT das seinerzeit in der Wirtschaft aufgekommene Zinssystem scharf kritisiert und dessen gefährlichen Folgen für die Gesellschaft und das Sozialleben aufgezeigt?
„Die Sünde, die usura heißt und im Darlehensvertrag ihren eigentlichen Sitz und Ursprung hat, beruht darin, dass jemand aus dem Darlehen selbst für sich mehr zurückverlangt, als der andere von ihm empfangen hat. … Jeder Gewinn, der die geliehene Summe übersteigt, ist deshalb unerlaubt und wucherisch.“ (VP § 3 I) Weiter schrieb der Kirchenrechtler und Papst: „Man huldigte aber – das ist wohl zu beachten – einer falschen und sehr gewagten Ansicht, wenn man meinen würde, es fänden sich beim Darlehen immer und überall zur Hand andere rechtmäßige Titel, oder auch bei Abschluß eines Darlehens andere gerechte Verträge, und unter dem Schutze dieser Titel oder Verträge sei es immer erlaubt, einen rechtmäßigen Mehrwert über die volle und unverlorene Stammsumme hinaus zu nehmen, so oft man Geld, Getreide oder etwas anderes dieser Art einem andern kreditiert. Wenn jemand also denkt, ist er nicht nur im Widerspruch mit den göttlichen Lehren und der Entscheidung der Kirche über den Darlehenszins, sondern zweifellos auch sogar mit dem allgemeine Menschheitsbewußtsein und mit der natürlichen Vernunft.“ (VP § 3 V)
Ausdrücklich fordert Benedikt XIV., bei keiner Synode, Predigt oder Christenlehre dürfe etwas von obigen Thesen Abweichendes vorgetragen werden. Die Verantwortlichen der Kirche werden von ihm angewiesen, das „Schandmal und Laster des Darlehnszinsnehmens“ unter Hinweis auf die hl. Schriften zu „brandmarken“ (VP § 7).
Die neuzeitliche Praxis drängte die päpstliche Wucherlehre in den Hintergrund. Arbeit galt nicht mehr als Existenzvollzug des Menschen, sondern wurde zum „Faktor“ degradiert und den rein instrumentellen Ressourcen „Kapital“ und „Boden“ gleichgestellt. Wirtschaft und Finanzwelt beanspruchten den Profitvorbehalt und nahmen sich aus allen Geschäften und Gewinnen mehr als ihnen aufgrund ihrer Beteiligung im Arbeitsprozess zugestanden hätte. So gewannen die Kapitalgeber die Macht über die Wirtschaftsprozesse und über jene Menschen, die nur ihre Arbeitskraft in das Geschehen einbringen konnten.
„VIX PERVENIT” erfasste und beantwortete 145 Jahre vor Leo XIII. bereits die prinzipielle Frage der Ungerechtigkeit des Zinsnehmens als den Kern des sozialen Übels der kapitalistischen Geldgesellschaft. Warum wird nicht sie als erste große Sozialenzyklika der Kirche zur modernen sozialen Frage erkannt und bewertet?
Als Leo XIII. 1891 seine Enzyklika veröffentlichte, waren die von Benedikt XIV. befürchteten Folgen längst eingetreten. Die europäischen Gesellschaften hatten zwei neue Klassen ausgeprägt, die kämpferisch gegeneinander standen und den sozialen Frieden zerstörten. Zahlenmäßig klein, aber wirtschaftlich nahezu allmächtig die Kapitaleigner; ohnmächtig, selbst in ihrer Masse, die Proletarier, denen ihr gerechter Anteil an den wirtschaftlichen Erfolgen verwehrt blieb.
Sozial engagierte Christen und Katholiken hatten bereits im frühen 19. Jahrhundert deutliche Kritik am aufkommenden Kapitalismus geübt. Im sozialpolitischen Comitee des Deutschen Katholikentages gab es ein langes Ringen um die eigene Positionierung zum Kapitalismus. Es gelte diese Ideologie als geschichtliche Tatsache anzuerkennen und durch sozialpolitische Maßnahmen das Los der Arbeiter zu lindern. Diese Auffassung vertrat ein Teil der Versammlung unter der Führung des Priesters Franz Hitze (1851-1921).
Das profitheischende System des Kapitalismus zu überwinden und eine dem Gemeinwohl dienende Wirtschaftsform zu entwickeln, verlangte die Gruppe um den Publizisten und Sozialreformer Karl von Vogelsang (1818 – 1890). Die Entscheidung fiel 1884 auf der Vollversammlung des Katholikentages in Passau. Hitze nutzte die krankheitsbedingte Abwesenheit Vogelsangs, um sein Konzept durchzusetzen.
Vogelsang reagierte auf die ohne ihn vollzogene Abstimmung mit einem Separatvotum in der „Monatsschrift für christliche Social-Reform. Gesellschaftswissenschaft u.s.w.“ (Wien 1884, Seite 1):
„Das kapitalistische Wirtschafts- und Socialsystem, welches jetzt die ganze civilisierte Welt absolut beherrscht, heute jedoch den Kulminationspunkt seiner Herrschaft bereits überschritten hat und dem Untergange zueilt, steht in einem unversöhnlichen Widerspruche zu der gesammten ethischen Veranlagung des Christenthums. Ein dauerndes Nebeneinanderbestehen beider entgegengesetzten Systeme ist unmöglich.“
Die mit RERUM NOVARUM beginnende Reihe der Sozialenzykliken folgte der Linie des Katholikentages für eine Sozialpolitik innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftsystems.
1931, zum 40. Jahrestag der Enzyklika Leos XIII., folgte in der Enzyklika QUADRAGESIMO ANNO sogar die ausdrückliche Anerkennung jener Wirtschaftsweise, „bei der es im allgemeinen andere sind, die die Produktionsmittel, und andere die Arbeit zum gemeinsamen Wirtschaftvollzuge bereitstellen.“ (QA 100) Mit RERUM NOVARUM habe sich Papst Leo bemüht, dieser Wirtschaftsweise die rechte Ordnung zu geben. „Daraus folgt, dass sie als solche nicht zu verdammen ist. Und in der Tat, sie ist nicht in sich schlecht.“ (QA 101).
Wohl beschreibt die Enzyklika die Verkehrtheit dieser Wirtschaftsweise und der daraus entstehenden „ungeheuren Zusammenballung nicht nur an Kapital, sondern an Macht und wirtschaftlicher Herrschgewalt in den Händen einzelner“ (QA 105). Doch solche Verkehrtheit beginne „vielmehr erst dann, wenn das Kapital die Lohnarbeiterschaft in seinen Dienst nimmt, um die Unternehmungen und die Wirtschaft insgesamt einseitig nach seinem Gesetz und zu seinem Vorteil ablaufen zu lassen, ohne Rücksicht auf die Menschenwürde des Arbeiters, ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Charakter der Wirtschaft, ohne Rücksicht auf Gemeinwohl und Gemeinwohlsgerechtigkeit.“ (QA 101). Übersehen oder ausgeblendet wurde dabei, dass diese Verkehrtheit existenzieller Grundbestandteil der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist.
Das Ringen um die rechte Ordnung des Kapitalismus blieb eine Grundfrage der katholischen Soziallehre. Vertreter der grundlegenden Systemkritik blieben im Abseits. Der Paderborner Priester und excellente Marx-Kenner Wilhelm Hohoff (1848-1923) konnte zwar den Sozialistenführer August Bebel (1840 – 1913) überzeugen, dass nicht Christentum und Sozialismus, sondern Christentum und Kapitalismus wie Feuer und Wasser unversöhnlich miteinander seien. Doch als der „Rote Pastor“ geriet er in der eigenen Kirche unter Druck, dem er sich lebenslang widersetzte.
Der Wirtschaftsethiker und Innsbrucker Ordinarius für Moraltheologie, Johannes Kleinhappl SJ (1893 – 1979) kritisierte die in QUADRAGESIMO ANNO formulierte Anerkennung des kapitalistischen Wirtschaftens. Auch wenn zwei vom Orden bestellte Gutachter feststellten, Kleinhappl stehe nicht in Widersprüchen zur kath. Glaubens- und Sittenlehre, entzog ihm der Orden 1947 den Lehrstuhl und verpflichtete Kleinhappl zum Schweigen.
Konzepte wie die „Laboristische Ordnung“ Alfred Berchtolds (1904 – 1985), Rektor des Katholischen Sozialinstituts der Süddeutschen KAB von 1948 bis 1977 oder Modelle einer Unternehmensverfassung wurden in den Sozialverbänden zwar diskutiert, erhielten jedoch nur unzureichende Unterstützung und landeten in den Archiven. Die Katholische Soziallehre verblieb in der Kritik an den offensichtlichen Missständen des Wirtschaftssystems, ohne die systemischen Ursachen dieser Missstände anzugehen.
Erst Papst Franziskus fand deutliche Worte. „Diese Wirtschaft tötet“, klagt er in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (EG 53) an, wenn Menschen ausgegrenzt und wie Müll behandelt werden. Um die Wirtschaft gerechter zu machen, müsse sie aus der Perspektive der Würde jedes Menschen und des Gemeinwohls gestaltet werden (EG 203). Es reiche nicht, „auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen“ (EG 204), warnt der Papst mit Blick auf die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich.
Doch zu seinen engsten Beratern zählt auch der Münchener Erzbischof Reinhard Kardinal Marx.Dieser schwört noch immer auf die Lektüre der neoliberalen Ökonomen wie Wilhelm Röpke, Walter Eukens oder gar Friedrich Hayeks, dem Mitbegründer der Mont Pèlerin Society. (Reinhard Marx, Das Kapital, Pattloch 2008, S. 296)
Außerhalb kirchlicher Aktionsfelder haben sich längst Kräfte entwickelt, die eine Gemeinwohl-Ökonomie vorantreiben und die vorherrschende Volkswirtschaftslehre gründlich infrage stellen.
Nur mal angenommen, kirchliche Unternehmungen, Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und wirtschaftliche Geschäftsbetriebe erstellten und veröffentlichten ihre Gemeinwohlbilanzen – welchen Auftrieb könnten sie der von Papst Franziskus geforderten Gemeinwohl-Wirtschaft geben?
Wagen wir einen Schritt weiter, nehmen einmal an, katholische Unternehmer richteten ihre Unternehmungen nicht allein an der Finanzbilanz, sondern zudem an der Gemeinwohl-Bilanz aus.
Welche Revolution in der modernen, globalisierten Wirtschaftswelt lösten sie damit aus? Welch faszinierende Beiträge erbrächten sie für eine Kultur, die „auf die Gesamtentfaltung der menschlichen Person und auf das Wohl der Gemeinschaft sowie das der gesamten menschlichen Gesellschaft auszurichten ist.“ Zu solchen kulturellen Leistungen fordert jedenfalls das II. Vatikanische Konzil (1962 – 1965) in der Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ auf (GES 59).
130 Jahre nach RERUM NOVARUM täte es der Katholischen Soziallehre und -praxis gut, sich solchem Geist der Neuerung zu öffnen.
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