Das mediale Geburtstags-Feuerwerk zum 70. Jahrestag des deutschen Grundgesetzes findet heute seinen Höhepunkt. Langsam verziehen sich die Rauchschwaden dieser Lobes-Illumination, die wie Nebelkerzen die Sicht auf die reale Verfassung unserer Gesellschaft trüben.
Soziale Spannungen, Machtkonzentration und Geldherrschaft über das Gemeinwesen, Erosion der Demokratien in völkerrechtliche Herrschaftsformen – doch liegt es an der Verfassung, wenn ein Land in schlechte Verfassung abgleitet?
Das Grundgesetz von 1949 schuf eine Plattform für politisches Handeln, welches leider auch solche Entwicklungen ermöglichte. Es stimmt: westliche Integration unter Konrad Adenauer, versöhnliche Ostpolitik unter Willy Brandt trugen zur Deeskalation in Europa bei. Wie Schlagbäume und Grenzkontrollen verschwanden, durfte ich erleben und Europa in allen Himmelsrichtungen durchfahren.
Doch auch die Verarmung breiter Bevölkerungskreise durch Massenarbeitslosigkeit und die Austeritätspolitik à la Hartz passierten im Rahmen des Grundgesetzes. Politiker und Parteien agierten und handeln seit nunmehr 70 Jahren nach diesen Bestimmungen. Immer wieder konnten verantwortliche Politiker darauf hinweisen, die Bürger hätten ihre Politik akzeptiert. Die Wahlen hätten es bestätigt.
So gestaltet und formt das Grundgesetz die bundesrepublikanische Arena politischer Interessenkämpfe. Mit dem Grundwertekatalog setzt das GG Regeln und Grenzen. Gelegentliche Entgleisungen fanden ihre Grenzen beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Zur zeitbedingten Interpretation dieser Regeln und Grenzen schlug der Parlamentarische Rat 1949 Pflöcke ein, die nicht mehr zur Disposition zu stellen sind. Diese Grenzen sind deutlich definiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art 1, Abs.1 GG) und „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. … Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus…“ (Art. 20 Abs.1 u 2 GG). Bei den Bestimmungen des Art. 79 Abs. 3 GG sprechen Verfassungsrechtler hier von der Ewigkeitsgarantie der Artikel 1 und 20 GG.
Durch wechselnde politische Mehrheiten kann jede Bestimmung des Grundgesetzes infrage gestellt und verändert werden. Debatten, wie sie jüngst der Juso-Vorsitzende Kühnert zum Eigentumsrecht angestoßen hat, sind vom Grundgesetz gedeckt und gewollt. Über 200 Veränderungen formten das Grundgesetz über die Zeit, von der dazu notwendigen parlamentarische Mehrheit beschlossen und von der Mehrheit der Wähler hingenommen.
Schon kurz nach dem Inkrafttreten des GG begann die begleitende Debatte um Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit. Geprägt ist diese Debatte stets von der Frage, ob „Die Politik“ die Qualitätsanforderungen der Grundrechte auch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit umgesetzt habe.
Jede Regierung steht vor solchen Anforderungen schlecht da, denn sie sind nicht erfüllbar.
Politische Entscheidungen dienen dazu, für das Gemeinwesen verbindliche und sanktionierbare Regeln festzulegen. Wer legitimiert ist, solche Entscheidungen zu treffen, wird in Verfassungen beschrieben. Vor allem auch, wer diese Legitimation erteilt. Das deutsche Grundgesetz bestimmt im Art. 20 Abs. 1 das Volk zum Souverän politischer Macht.
Wenn „das Volk“ in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit mit den Widersprüchen von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit hadert, sollten die Bürger sich fragen, wie weit sie selbst ihre demokratische Souveränität entfaltet haben.
Wer beteiligt sich an den Vorüberlegungen und Beratungen für politische Entscheidungen in Kommune, Land und Bund? Wer überlässt Beratungen und Entscheidungen lieber „denen da Oben“ und verbleibt in selbstgewählter Unmündigkeit?
Das Grundgesetz hindert keinen Bürger daran, als Untertan und Stimmvieh sein politisches Dasein zu fristen. Es lädt jedoch zu anderem Verhalten ein.
Wer sich als Bürger souverän mit den je eigenen Kompetenzen in demokratische Beratungsprozesse einbringen will, findet im GG breite Rückendeckung.
So kann jede Bürgerin, jeder Bürger mitwirken, moderne Demokratie zu entwickeln und politische in demokratische Entscheidungen zu wandeln. Demokratische Entscheidungen haben eine andere Qualität. Diese, das Gemeinwesen bindenden Regeln sind von den Betroffenen mitberaten, legitimiert und mitentschieden worden.
Forderungen auf solche Bürgerbeteiligung werden immer lauter und mit guten Argumenten vorgetragen. Sollten die geforderten Mitsprachekompetenzen wie Volksentscheide und Volksabstimmungen nicht auch von demokratischer Methodenkompetenz getragen sein? Sind wir als Bürger da auf gutem Niveau?
Wieviel investieren wir in persönliche Qualifizierung zu
- Respektvollem Wertediskurs?
- Reflexionslogischer Sachgliederung?
- Neuer Entscheidungskultur des Systemischen Konsensierens?
- Ökosozialer Sensitivität zur Überprüfung vorgeschlagener Lösungen?
Auch wenn die Entwickler dieser Methoden es vollmundig versprechen, keines dieser Reformkonzepte allein ist Heilsbringer der Demokratie. Juristen kennen die Denkfigur der „notwendigen, wenngleich unzureichenden Bedingung“. In gemeinsamer Choreographie werden diese Methoden tragenden Elementen moderner Demokratie – einer Demokratie, die auch vom Geburtstagskind getragen ist. Happy birthday, Grundgesetz!
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