Ein Heils-Plan zur Rettung der Renten wird gesucht. 10 Experten sollen nach dem Willen der aktuellen GroKo einen „verlässlichen Generationen-Vertrag“ entwickeln. Hubertus Heil, SPD-Arbeitsminister, hat nun die Kommission und deren Auftrag der Öffentlichkeit vorgestellt. Bis März 2020 soll sie ihre Empfehlungen vorlegen. Gelingt ihr das, dürfte anschließend der übliche parlamentarische Schlagabtausch anheben, denn die Oppositionsparteien sind nicht in der Kommission berücksichtigt – schließlich ist es ja kein Ausschuss des Bundestages. In einer Wahlkampf-Arena finden Sachargumente längst nur noch wenig Gehör – und gewählt wird 2021.
Die Rentenkommission wird nach den glaubwürdigen Worten ihres Vorsitzenden Karl Schiewerling mit Vertretern aller Interessengruppen und Generationen das Gespräch suchen und deren Vorschläge anhören. Daraus werden die berufenen Kommissionäre ihre Schlüsse ziehen, sich beraten und – so Schiewerling – einen tragfähigen Konsens finden.
Wie weit allerdings ein Konsens unter Experten sich vom Konsens der Betroffenen entfernen kann, belegen jene Politik-Abenteuer, die mit den Namen Hartz, Riester oder Rürup verknüpft sind. Betroffen sind in diesem Themenfeld heutige und künftige Rentenbezieher, Beitragszahler und beitragsbefreite Bürger, heutige und künftige Steuerzahler – also die gesamte Bandbreite der Bürger- und Wählerschaft. 10 Experten sollen die notwendenden Reformschritte herausarbeiten.
Über viele Legislaturen hinweg haben Experten-Kommissionen es geschafft, den Begriff „Reform“ zu verunglimpfen als „gegen die Bürger gerichtetes Agieren“. Sollten wir im Interesse zukünftiger Alterssicherung der Heils-Kommission ein politisches Wunder herbeibeten, damit es zu einem tragfähigen Generationenvertrag kommt? Wäre es nicht ratsamer, die Kommission entschiede sich für eine Arbeitsweise, die dem Anspruch moderner Demokratie gerecht wird?Neue Wege zu akzeptierten Lösungen
Moderne Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass die das Gemeinwesen bindenden Regelungen von der Mehrheit der Betroffenen beraten, legitimiert und akzeptiert werden. Sie orientieren sich an dem Anspruch des Art. 21,1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948: „Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar und durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.“ Seinerzeit war das ein ambitionierter Anspruch. Weder europäischen Regierungen noch der Bevölkerungsmehrheit im Nachkriegseuropa stand der Sinn nach „Mehr Demokratie wagen“. Nur gering waren zudem die technischen Möglichkeiten zur direkten Mitwirkung interessierter Staatsbürger an den sie betreffenden Anliegen. Der heutige digitale Alltag lag noch hinter der Horizontlinie. Inzwischen erlauben digitale Kommunikationsnetze den schnellen Zugriff auf komplexe Informationen, ortsunabhängige Foren zur individuellen und gemeinschaftlichen Meinungsbildung sowie zur Mitentscheidung über offene Fragestellungen. Und immer häufiger skandieren Bürger „Wir sind das Volk!“ und „Nicht über unsere Köpfe!“
Bürgerdialoge der GroKo
Zur Zukunft Europas will die Bundesregierung Meinungen der Bürger hören und organisiert dazu bis zum Europäischen Rat im Dezember 2018 insgesamt 100 Dialogveranstaltungen in ganz Deutschland. Minister, Ministerinnen, Staatssekretäre und Staatssekretärinnen sollen dort gemäß Koalitionsvertrag Kontakt zur Bürger- und Wählerschaft aufnehmen. Die Regierung zeigt sich für Europa bereit zum Dialog zwischen Gesellschaft und Politik. Zur Zukunft Europas also breiter Bürgerdialog, zur befriedenden Sozialpolitik dagegen nur eine Expertenrunde?
Digitalisierung als Ziel, aber auch als Weg
Die große Koalition hat die Digitalisierung der Gesellschaft zu eines ihrer Kernthemen erklärt. Sollte dabei die Förderung von selbststeuernden Autos und Flugtaxen nicht nachrangig auf der Agenda stehen gegenüber der Partizipation der Bürger und Wähler an den sie betreffenden Entscheidungen und den Leitlinien zur Gestaltung der Gesellschaft?
Um das Internet als Forum qualifizierter Partizipation zu nutzen, stehen bereits heute erprobte Methoden und sichere Programme zur Verfügung. Die Implementierung solcher Verfahren in politische Entscheidungsstrukturen gibt notwendender kooperativer Entscheidungskultur wichtigen Vortrieb.
Auf Augenhöhe?
Wie gern nutzen Dialoganbieter die Formel „auf Augenhöhe”! Gleiche Augenhöhe jedoch kann es nicht geben, ist ein Gesprächspartner der Entscheider und die anderen Bittsteller. Eine Annäherung an die „Augenhöhe” wird möglich, wenn Betroffene, Berater und Entscheider sich auf Verfahren verständigen, gemeinsam aus der größtmöglichen Vielfalt von Lösungsideen die Vorschläge mit der höchsten Akzeptanz herauszufiltern. Konsensierte Entscheidungsempfehlungen verweisen auf eine Rangliste der Vorschläge, welche die geringsten Widerstände hervorrufen. Das klingt mir eher nach Demokratie als der übliche Parteienstreit um eine Mehrheit für die je eigene Lösung.
Die Kommission als Moderator
Ein Prozess zur Konsensierten Entscheidungs-Empfehlung (KEE) bedarf einer guten, sachkompetenten Moderation. Experten müssen helfen bei der Einschätzung von Vor- und Nachteilen oder den Konsequenzen eines Vorschlags. Die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil berufene Experten-Kommission könnte eben diese Aufgabe erfüllen. Für ein oder zwei im systemischen Konsensieren (SK-Prinzip) erfahrene Berater wird der Bundeshaushalt wohl Raum bieten. Die Steuerzahler würden diese Zusatzkosten echter Partizipation bejahen, falls sie die geringen Kosten überhaupt bemerkten.
Ideenfieber-Kampagne
Die Aufgabe steht im Koalitionsvertrag: „Wege zu einer nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der Alterssicherungssysteme ab dem Jahr 2025″ sind aufzuzeigen. Kompetenz und Kreativität jenes Volkes, von dem alle Macht ausgeht (Art.20 Abs. 2 Grundgesetz), eingebunden in eine Ideenfieber-Kampagne, wird längst bekannte Vorschläge um neue Varianten bereichern. Jede Idee, jeder – selbst der krudeste – Vorschlag ist willkommen, kann öffentlich eingesehen und auf Konsequenzen überprüft werden. Gesellschaftliche Gruppen aller Art können ihre Vorschläge einbringen und in eigenen Veranstaltungen bewerben. Das Cappuccino-Modell christlicher Sozialverbände oder die Überlegungen der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen können endlich in breiter Öffentlichkeit dargelegt werden. Bürger, die enkeltauglich leben wollen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Parteien – auch die der parlamentarischen oder außerparlamentarischen Opposition stellten ihre Überlegungen vor.
Jeder interessierte Bürger kann zu jedem Vorschlag anmerken, welche Vorteile oder Nachteile er sieht und seine persönliche Bewertung als Widerstandspunkte angeben. Das System sortiert sämtliche Vorschläge in der Rangfolge ihres Gesamtwiderstandes.
Kann eine wirklich demokratische Regierung mehr wollen als einen offenen, konfliktlösenden Diskurs im Volk?
KEE erleichtert Abstimmung im Parlament
Am Ende des Konsensierungsprozesses, in diesem Fall März 2020, könnte die Kommission der Regierung eine Handvoll Empfehlungen unterbreiten. Empfehlungen, die sich am Gemeinwohl ausrichten und von der Mehrheit des Volkes beraten, akzeptiert und legitimiert sind.
Nun braucht es noch den gesetzestechnischen Feinschliff und die parlamentarische Entscheidung.
Da die Oppositionsparteien bereits mitgestaltend in der Konsensierungsphase beteiligt waren, bleibt wenig Zündstoff für parlamentarischen Streit. Wer sich während der Konsensierung vornehm bzw. parteitaktisch zurückhält, verspielt seine Berechtigung zu anschließender Kritik.
Klare Perspektiven für die Volksvertreter
Abgeordnete des Bundestages sind lt. Grundgesetz nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. So wird es im Art. 38 beschrieben. Keineswegs wird verlangt, dass jeder Parlamentarier jederzeit zu allen Sachfragen vollen Sachverstand haben muss. Dennoch ist jedes Abgeordneten Votum gefordert, denn das Wahlsystem stattet sie mit Blankoschecks ihrer Entscheidungsvollmacht aus.
Konsensierte Entscheidungs-Empfehlungen (KEE) kommen dem Zwiespalt partieller Sachkompetenz und umfassender Entscheidungskompetenz entgegen. Sie reduzieren die Auswahl auf fünf Perspektiven:
- Erzeugt große Unzufriedenheit unter den Betroffenen
- Erzeugt keine Unzufriedenheit unter den Betroffenen
- Erzeugt mittlere Unzufriedenheit unter den Betroffenen
- Erweitert und stabilisiert eigene Macht
- Erweitert und stabilisiert die Macht der politischen Gegner.
Ein Vorschlag mit dem geringsten Gesamtwiderstand kommt bei gesundem Hausverstand als Problemlösung am ehesten in Frage. Es bleibt weiterhin eine Gewissensentscheidung, woran er/sie die Stimmabgabe orientiert. Unbegründete Abweichungen von den konsensierten Empfehlungen könnten allerding zu Irritationen in der Bevölkerung führen, die sich in zukünftigen Wahlen niederschlügen.
„Mehr Demokratie wagen“ hatte sich die SPD einst mit Willy Brandt vorgenommen. Bis sich am 6. Juni 2018 die nun einberufene Kommission konstituiert, bleibt wenig – aber ausreichend Zeit – sich für einen Konsensierungsprozess zu entscheiden. Einen Prozess, der mehr Demokratie wagt. Einen Prozess, der einen neuen Generationenvertrag generiert. Einen Prozess, der die Gesellschaft dauerhaft befrieden kann.
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