Stolz schauen sie auf eine respektable Tradition zurück. Beim Aufbau sozialstaatlicher Strukturen im deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland haben sie sich Meriten erworben. Auch im Widerstand gegen die Nazidiktatur haben sie Flagge gezeigt und zahlreiche Opfer beklagen müssen. Der selig gesprochene Nikolaus Groß (1898 – 1945) steht als Zeuge dieses Widerstandes.
Die katholischen Sozialverbände Deutschlands haben in ihrer Blütezeit sozialpolitische Koryphäen hervorgebracht und gemeinsam mit Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmerorganisationen einen an Menschenwürde und Sozialpartnerschaft orientierten Sozialstaat aufgebaut. Doch der Fall der Berliner Mauer und des eisernen Vorhangs in Europa nahmen dem westlichen Kapitalismus seinen Gegenspieler und beendeten die vorgebliche Sozialpartnerschaft. Der neuen Macht des global agierenden Kapitalismus und dessen Kahlschlag in den Sozialsystemen haben die Sozialverbände so gut wie nichts entgegenzusetzen. Sie üben zwar fleißig Zuständekritik und stellen Überlegungen für nachhaltiges Leben und soziales Wirtschaften zur Diskussion, sozialpolitisch aber bleiben sie unwirksam und treten auf der Stelle. Kritik, die den Rahmen der Verbandsprogramme sprengt, wird tunlichst ausgeblendet. Querdenker haben bei ihnen wenig Rückhalt.
Deutschlands katholische Sozialverbände gleichen dem kranken Mann aus einer orientalischen Erzählung. Dieser Mann stand auf einen Bein angelehnt an einer Mauer des Marktes. Die Last seines Körpers drückte auf dieses Bein und es begann zu schmerzen. Das Wehklagen des Mannes erbarmte einige Passanten und sie suchten ihm zu helfen. Einer massierte das belastete Bein, ein anderer stützte den Oberkörper ab. Ein dritter machte sich auf die Suche nach einem Rollstuhl, weitere Passanten diskutierten über die Unzulänglichkeit des Gesundheitssystems. Ein Straßenjunge stellte sich vor den Mann, schaute ihn von oben bis unten an und fragte: „Warum stehts du nur auf einem Bein und klagst? Du hast doch zwei Beine, warum nutzt Du nicht beide und gehst Deinen Weg?“
Einseitig konzentrieren sich die Sozialverbände auf Schutz und Besserstellung der Arbeiter (des Proletariates) im vorherrschenden kapitalistischen System. Damit folgen sie einer von Prälat Franz Hitze (1851-1921) durchgesetzten im Zentralkomitee der deutschen Katholiken durchgesetzten Doktrin. Sozialpolitik oder Kapitalismuskritik – über Jahre war um diese Frage gerungen worden. Als Karl von Vogelsang (1818-1890) als Sprecher der Kapitalismusgegner krankheitsbedingt nicht an den Beratungen des ZDK teilnehmen konnte, entschied Hitze die Debatte für sich und sein Anliegen.
Er sah, wie auch später die Päpste Leo XIII. und Pius XI. das profitorientierte Wirtschaftssystem des Kapitalismus als in sich nicht schlecht und als solches nicht zu verdammen an. Es gelte, diese Wirtschaftsweise zu zügeln und ihr eine gerechte Ordnung zu geben.
Die anti-kapitalistischen Vertreter katholischer Soziallehre dagegen sahen keine Wirtschaftsweise, sondern eine Herrschaftsweise, die sich der Wirtschaft bedient. Echte Sozialreformen könnten erst durch einen Wandel der Herrschaftsverhältnisse greifen.
Doch auch in der Kirche bestimmen die (Abstimmungs-)Sieger den weiteren Verlauf, die Unterlegenen werden vergessen oder ins Vergessen gedrängt. So erging es auch den katholischen Kapitalismuskritikern. Karl von Vogelsang wurde von einem LKW überfahren, der tödliche Unfall mit Fahrerflucht wurde nis aufgeklärt. Der Paderborner Diözesanpriester Wilhelm Hohoff (1848-1923), profiliertester katholischer Marxkenner seiner Zeit, wurde abgeschoben in eine sauerländische Dorfpfarrei – heute zu Brilon gehörend. Literarische Zeugnisse von christlichen Sozialisten wie Walter Dirks (1901-1991)und Heinz Kühn (1912-1992), einst NRW-Ministerpräsident, halten die Erinnerung an ihn wach. Prof. Johannes Kleinhappl SJ (1893-1979), Ordinarius für Moraltheologie und Wirtschaftsethik an der Universität Innsbruck, wurde 1947 von der Ordensleitung aus Amt und Lehrstuhl gemobbt. Der Sozialphilosoph Prof. Johannes Heinrichs SJ (geb. 1942), verließ um der Freiheit seines Denkens willen den Jesuitenorden und seinen Lehrstuhl an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt. Orden und Kirche reagierten unbarmherzig und verhinderten durch ihren per Konkordat gesicherten Einfluß auf deutsche Universitäten seine weitere Hochschultätigkeit.
Ihre Erkenntnisse, Einsichten und Folgerungen wurden und werden bewußt ausgeblendet und ignoriert. Dabei könnten sie den Sprung aus dem Teufelskreis ermöglichen. Jenem Teufelskreis, in den die einseitig sozialökonomisch und sozialpolitisch orientierte Lehre der Kapitalismusbefürworter um Johannes Meßner (1891-1984), Oswald von Nell-Breuning (1890-1991)und Joseph Kardinal Höffner (1906-1987) geführt haben.
Wie sagte doch der Strassenjunge? „Warum stehts du nur auf einem Bein und klagst? Du hast doch zwei Beine, warum nutzt Du nicht beide und gehst Deinen Weg?“
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