Endlich aufbrechen, von der Sehnsucht getragen

Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.
Antoine de Saint-Exupéry (1900-44)

Segel hissen

Ein Weisheitsspruch, der nicht nur mein Engagement begleitete und prägte. Weisheitssprüche verdienen beachtet zu werden. Allerdings sollten sie auch immer wieder bedacht werden, ob und wie sie der je aktuellen Realität gerecht werden.

Gab der Autor des „Kleinen Prinzen“ der etwa Sehnsuchtsförderung den Vorzug vor dem Schiffbau und der Kunst der Seefahrt? Hätte er gar die Sehnsucht als Ersatz für technisches Können gepriesen?

Dem leidenschaftlichen Piloten Saint-Exupéry wäre eine Missachtung des technischen Könnens und der sinnvollen, effizienten Organisation sicherlich nicht in den Sinn gekommen. Ihm ging es um die grundlegende Motivation. Um den Enthusiasmus, Können und Organisation in die richtige Bahn zu lenken. „… lehre sie erst die Sehnsucht…“ dürfte dieser Vorstellung besser entsprechen.

Die Sehnsucht haben wir gelehrt. Sehnsucht nach einer solidarischen Gesellschaft bei weltweitem sozialem Ausgleich. Sehnsucht nach einer Arbeitswelt und Wirtschaftsweise, die der Würde des Menschen und dem Gemeinwohl der Völker dient. Sehnsucht nach einem kulturellen Miteinander, welches die Identitäten belässt und sie als Bereicherung respektiert.

Doch während diese unsere Sehnsucht wächst, lassen wir zu, dass die Realität in die entgegengesetzte Richtung geht. Menschen, die anderen Sehnsüchten frönen, Sehnsüchten nach politischer oder wirtschaftlicher Macht, nach Reichtum oder öffentliche Anerkennung kombinieren ihre Neigungen mit den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Gesellschaft nach ihren Wünschen zu gestalten. Sie bauen die Schiffe, besetzen die Brücken und wichtigen Schaltstellen. Sie setzen den Kurs und verhindern erfolgreich den von Passagieren und Mannschaften geforderten Kurswechsel.

Unsere Sehnsucht haben wir gefördert und gepflegt. Haben wir aber auch unsere Fähigkeiten entfaltet, unsere Fertigkeiten vertieft? Jene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es braucht, um in See zu stechen, auf große Fahrt zu gehen und dem gemeinsamen Willen entsprechend das Schiff zu steuern.

Vortragsabende, Diskussionsrunden und Thementagungen vermitteln ein anderes Bild:

  • Zu viele, die ihre Sehnsucht nach dem Meer durch Strandwanderungen ausleben. Sie sind überzeugt, zu „wissen, wie es geht“. Doch gehen sie lieber nur mit den Füßen in die auslaufenden Wellen.
  • Zu viele, die interessante kleine Boote bauen. Zur Sicherheit bleiben sie in Sichtweite der Küste. In lokalen oder regionalen Projekten zeigen sie auf, wohin es führen könnte, ginge man der Sehnsucht konsequent nach. Wann werden sie sich trauen, die scheinbar sichere Küste zu verlassen, um zu den Sehnsuchtsufern aufzubrechen?
  • Zu wenige, die Sehnsucht, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Einklang bringen, um sich aufs offene Meer mit seinen Wettern, Risiken und Unwägbarkeiten zu trauen. Beim Aufbruch lassen sie die heimatliche Wohlfühlzone hinter sich. Bei gelegentlichen Heimatbesuchen schlägt ihnen Befremden und Erstaunen entgegen über das, was sie als Erkenntnisse und Einsichten unterwegs gewonnen haben. Können wir ihnen verdenken, wenn sie die Couzpe verlieren für ein weiteres Abenteuer? Wenn sie sich stattdessen in heimatlicher Annehmlichkeit mit dem Nimbus des Abenteurers neu einrichten? Oder aber neu aufbrechen, uns den Rücken kehren, sich endgültig eine neue Heimat suchen und uns an ihren Einsichten, Erkenntnissen und Erfahrungen nicht mehr teilhaben lassen?

Die christliche Sozialbewegung mit ihren verschiedenen Verbänden und Organisationen galt über Generationen als Träger der Sehnsucht nach einer humanen, solidarischen Welt. In den Ruhmeshallen katholischer Soziallehre hängen die Bilder und Biografien „roter Prälaten“. Bischof von Ketteler (1811-1877), Adolph Kolping (1813-1865), Franz Hitze (1851-1921), Joseph Cardijn (1882-1967), Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) aber auch Arbeiterführer wie Nikolaus Groß (1898-1945), Franz Leuninger (1898-1945) und Marcel Callo (1921-1945) halten diese große Zeit in Erinnerung.

Dem Vergessen anheimgegeben oder bewusst aus der kollektiven christlich-sozialen Erinnerung gelöscht wurden unbequeme Mahner wie Karl von Vogelsang (1818-1890), Wilhelm Hohoff (1848-1923), Anton Orel (1891-1959), Johannes Kleinhappl (1893-1979) oder Johannes Heinrichs (*1942). Ihre frühen Einsichten über eine Wirtschaft, die tötet (so Papst Franziskus), waren zu irritierend. Sie hätten zu jener Kurskorrektur geführt, nach der wir uns heute sehnen.

Ihre Einsichten sind nicht verloren. Wir können auf sie zurückgreifen, unsere bisherigen Einsichten damit vertiefen, unsere Fähigkeiten neu in den Blick nehmen und unsere Fertigkeiten gezielt trainieren, um endlich zu neuen Ufern aufzubrechen.

Um nicht in der Sehnsucht zu verharren, sondern den notwendigen Umzug zu wagen.

 

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