Von der Wertedebatte zum Wertekonsens

(aus NUR MAL ANGENOMMEN… …DEMOKRATIE GINGE ANDERS, S. 183 ff)Ebook Demokratie

Gibt sich eine Gesellschaft und Nation ihre Rechtsgestalt als Staat, sollte sie grundlegende Regeln definieren:

-        An welchen Werten richten wir unser zwischenmenschliches Verhalten als Bürger aus?

-        Wie beraten und definieren wir diese Werte, wie werden sie verbindlich festgesetzt?

-        Wie wird der wertepluralen Gesellschaft Rechnung getragen?

-        Wie geschieht die Anwendung der Grundrechte auf aktuelle Entscheidungen in Zeit und Raum?

-        Gesellschaft und Nation prägen sich durch gemeinsame Kultur, wie gestalten wir das Spannungsfeld von „gemeinsamer Kultur“ und „kultureller Vielfalt“ und „Gastfreundschaft der Kulturen“?

-        Gestatten und sichern wir jedem Bürger volle kulturelle Teilhabe? Welche Regeln braucht es dazu?

-        Wie gestalten wir das Spektrum von Kulturtradition, Forschung, Publizistik und Kunst als öffentlicher Diskurs?

-        Wie strukturieren wir die als Staat verfasste Gesellschaft nach innen und außen?

-        Wie regeln wir Interessen- und Machtkonflikte?

-        Wie regeln wir die Nutzung des gemeinsamen Lebensraumes (Raumplanung)?

-        Welche Gemeinschaftsdienste wollen wir nutzen und wie gestalten (öffentliche Infrastruktur)?

-        Wie stellen wir uns zu unseren nahen und fernen Nachbarn? Wie wollen wir in Staatenbünden kooperieren? An welchen wollen wir uns beteiligen? Wie schützen wir uns vor ungewollten Einflüssen und Eingriffen?

-        Wie schützen wir uns vor und in militärischen Konflikten?

-        Wie organisieren wir die materielle Versorgung der Bürger mit Waren, Gütern und Dienstleistungen in arbeitsteiliger Gesellschaft?

-        Ist „Wirtschaften“ ein auf das Gemeinwohl ausgerichtetes Teilsystem der Gesellschaft?

-        Wollen wir, dass die makroökonomischen Ergebnisse allen an der gesellschaftlichen Wertschöpfung Beteiligten zugute kommen? Wie lässt sich eine gerechte Verteilung des erzielten Mehrwerts auf die an der Wertschöpfung Beteiligten sicherstellen? Wie kann der erzielte Mehrwert für die Sicherung menschenwürdigen Lebens der nicht arbeitsfähigen Menschen oder der aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen verwendet werden? Welche Rahmenvereinbarungen braucht es dazu?

-        Erkennen wir gemeinsame Wertschöpfung allein in der Arbeit der arbeitenden Menschen gegründet?

-        Mit welchen Regeln ist sicherzustellen, dass gegen das Gemeinwohl gerichtete Wirtschaftsprozesse eingegrenzt und unterbunden werden?

Jede dieser Fragestellungen beschreibt ein Dilemma. Denn zu jeder Frage gibt es unterschiedliche Lösungen, um die gerungen werden darf und die es zu entscheiden gilt. Erst die klare Entscheidung der Legislative gibt der gewählten Lösung ihre politische Legitimation.

Politische Legitimation aber ist wie eine nachwachsende, sensible Pflanze. Kultiviert und gefördert in Freilandhaltung, blüht sie häufig und bringt immer wieder neue Früchte hervor. In Schatten der Machtpolitik, mit Doktrinen gedüngt, verkümmert sie; ihre mageren Fruchtstempel politischer Kultur werden giftig. Zur Vergiftung politischer Kultur trägt eine Entscheidungsform bei, die wir als Mehrheitsprinzip kennen und als demokratische Errungenschaft feiern. Die per Fraktionen demonstrierte Befürwortung einer Lösung entgleist regelmäßig in Kritik und Verunglimpfung des gegnerischen Konzeptes. Damit sind Kämpfe um die Mehrheiten einem sozialen Frieden nicht besonders förderlich.

Parteiische und parteiliche Wertentscheidung und Handlungs-optionen beanspruchen dann Gültigkeit für die Gesellschaft und die politische Entscheidung. Im Kampf um die Mehrheit werden Abstriche an den Vorschlägen gemacht, „Pakete geschnürt“, Koalitionen geschmiedet und über die Sache gestellt. Hauptsache, man erringt oder behält die Mehrheit, schon die relative Mehrheit – also die meisten JA-Stimmen – reichen. Mitglieder der bei Entscheidungen unterlegenen Gruppierungen lauern auf Revanche, selbst wenn sie als „gute Demokraten“ die Mehrheitsentscheidung hinnehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die entschiedene Lösung und deren Umsetzung mittragen, bleibt sehr gering.

Das Haus Nummer 32 der Kölner Marzellenstraße beherbergt das Generalvikariat, die Verwaltungszentrale des Erzbistums Köln. An der Hauswand ist eine Gedenktafel angebracht für den Physiker Georg Simon Ohm (1789-1854). „Wie passend,“ schoss es mir durch den Kopf, als ich diese Tafel erstmals sah, „der Erfinder des Widerstandes an einer Verwaltungszentrale.“ Ohm hatte bewiesen, dass die Stromstärke einer elektrischen Spannung wesentlich vom Widerstand abhängt. Jedem Elektriker ist das ohm‘sche Gesetz U:R=I bekannt: die Spannung (U) dividiert durch den Widerstand (R) in Ohm (Ω) ergibt die Stromstärke (I) in Ampere.

Die Proportionalität zwischen Energiefluss und Widerstand gilt wohl nicht nur in einem elektrischen Leiter. Wie viele erwünschte und mit Energie angestrebte soziale Entwicklungen scheitern an mangelnder Akzeptanz und aktivem Widerstand?

Mehrfach haben wir festgestellt, dass die Gestaltung der Gesellschaft wesentlich an Wertentscheidungen gebunden ist. Wie aber finden wir zu den dazu prägenden und verbindlichen Werten? Zu Werten, die auf die jeweils zu treffende politische Entscheidung Anwendung finden. In wertepluralen  Gesellschaft weisen alle Weltanschauungen, Ideologien, Religionen und spirituellen Schulen auf ihren je spezifischen Wertekatalog hin. Doch die Werte, die für politische Handlungsentscheidungen gebraucht werden, lassen sich nicht per Katalog bestellen. Hier ist palamentarische Hausarbeit gefragt. Die Volksvertreter haben sich ihrer Herausforderung zu stellen, Antworten zu finden und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Konfektionslösungen aus einem Partei-Werte-Shop passen nie so ganz. Für eine parlamentarische Maßanfertigung gibt es erfreulicherweise Hilfsmittel, methodische Hinweise für die Entwicklung politischer Entscheidungen, die hohe Akzeptanz finden.

Wäre es nicht besser, die gesellschaftliche Wertedebatte münde in einen Prozess parlamentarischer Entscheidungsvorbereitung, bei dem die unterschiedlichen Lösungsvorschläge auf ihre Akzeptanz abgefragt werden? Die Lösung mit der höchsten Akzeptanz, also dem geringsten Widerstand und Konfliktpotential, erhielte dann auch Zuschlag der Verbindlichkeit.

In vielen Parlamenten ist das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen gesetzlich vorgeschrieben, für den deutschen Bundestag findet sich diese Festlegung im Art. 42, 2 GG. Keine Bestimmung hindert Parteien und Fraktionen, zur Entscheidungsvorbereitung die eingereichten unterschiedlichen Vorschläge auf ihre Akzeptanzwerte zu prüfen. Auch Minderheitsparteien könnten für kluge Ideen die Akzeptanz der Parlamentsmehrheit erreichen. Über die „Systemische Konsensierung“ ließe sich die Akzeptanz der verschiedenen Vorschläge ermitteln. Es wäre doch wohl äußerst erstaunlich, bekäme der Vorschlag mit der höchsten Akzeptanz nicht auch die Abstimmungsmehrheit.

Die politische Logik der Sachdebatten und die politische Kultur allgemein würden sich verändern. Statt um Befürworter zu buhlen und Gegner kleinzureden stünde die Suche nach gemeinsam tragfähigen Lösungen im Vordergrund.

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