Liebe in Wahrheit ?

Was bewirkt eine Sozialenzyklika?
Die Reaktionen auf die päpstliche Enzyklika “Caritas in veritate” macht mir immer mehr verständlich, warum Pius XII. keine Sozialenzykliken schrieb. Wohl nahm dieser Papst in Briefen, Grußworten und Weihnachtsbotschaften zu sozialen und gesellschaftlichen Fragen Stellung, doch immer konkret und auf den Anlass bezogen.
Wie etwa hätte er die komplexen und explosiven gesellschaftlichen Situationen seiner Zeit in einem förmlich wie thematisch weltumfassenden Schreiben ausreichend bearbeiten können. In einem Schreiben, welches treffende sozialwissenschaftliche Analysen, theologisch Reflektionen und christliche Handlungsperspektiven vereinigen soll. Der gewiefte Kuriendiplomat Eugenio Pacelli handelte klug, er schrieb keine Sozialenzyklika.
Seine Nachfolger entschieden sich anders. So begründete Johannes XXIII. warum auch in den Fragen zwischenmenschlichen Miteinanders die Kirche “Mutter und Lehrmeisterin” sei (Mater et Magistra). Paul VI. griff den Schrei der Unterdrückten in prophetischer Kritik auf und beschrieb Maßstäbe zur menschenwürdigen Entwicklung der Völker (Populorum progressio). Johannes Paul II. warnte vor den Eigenarten des Profit heischenden Kapitalismus und den Gefahren seiner Entfesselung nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Gegenspielers.
Scharfe Analysen in deutlicher Sprache, die die Entwicklung zur moneytheistischen Weltunterwerfung aber nicht aufhielten.
Auch dort, wo Christen in hohen Führungspositionen tätig waren und sind, wurden ökonomische und politische Entscheidungen “realistisch” getroffen. Ethische Wechselbeziehungen werden auch heute als nebensächlich außer Acht gelassen oder gar in den argumentativen Dienst der Profitgier umgedeutet.
Lässt sich etwa im Geschäftsgebaren der Deutschen Bank erkennen, dass ihr langjähriger Chefökonom als bekennender Katholik Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist? Eher lässt sich der Einfluss neoliberalen Gedankengutes auf die soziale Positionierung der Kirchen belegen.
Zeichnet sich nicht die an Friedrich von Hayek und Milton Friedman orientierte neoliberale Wirtschaftstheorie durch ihre kalte, ethikfreie “ökonomisch rationale Logik” aus? Eine Logik, in der die Profitmaximierung alle anderen Werte zur “Gefühlsduselei von Gutmenschen” degradiert. Eine Logik, die dem “Shareholder value” die Herrschaft über alle wirtschaftlichen und politischen Prozesse einräumt.
Nun soll also ein Papst mit einer Sozialenzyklika alles wieder gerade rücken? Wehe, wenn er nicht den richtigen Ton trifft, wenn er nicht brillant die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen bedient. Den Politikern sollte er klare Handlungsstrategien aufweisen, ohne sie zu bevormunden.
Die ethische Herausforderung genommen
Dem Dogmatikprofessor Joseph Ratzinger hätte die “Klugheit” seines diplomatischen Vorgängers Pacelli vielleicht auch gut getan.
Doch auch er hat sich anders entschieden. Zu der epochalen moneytheistischen Unterwerfung der Menschen in aller Welt hat er nicht geschwiegen.
Die Fallstricke unterschiedlicher Fachdisziplinen zu meiden suchend, konzentriert er sich auf die theologisch-ethische Reflektion dessen, was von der herrschenden Ökonomie bewusst verdrängt wird: Gerechtigkeit und Gemeinwohl, zu gestalten aus Liebe in der Wahrheit.

Noch immer “Ja zum Kapitalismus”?
Ohne es ausdrücklich zu formulieren, akzeptiert der Papst immer noch die geschichtlich entwickelte Klassenstruktur und fordert wirksamen Schutz der besitzlosen Erwerbsabhängigen durch starke Arbeitnehmervereinigungen (CiV 25).
Die Überwindung der sich aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise konsequent ergebende Klassenaufteilung gemäß der Anforderung von Rerum novarum und dem Denk- und Arbeitsansatz des Johannes Kleinhappl wird allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialethischen Lehren Oswald von Nell-Breunings, Joseph Kardinal Höffners und anderer nach sich ziehen. Sind es doch Konzepte, die von der Formel ausgehen, dass das für die “kapitalistische Wirtschaftsweise” unverzichtbare Rentabilitäts- und Profitmaximierungsprinzip “in sich nicht schlecht”, “daher als solches nicht zu verdammen” sei (Quadragesimo anno, 1931, Zif.100 u 101).
Auch nach der klaren Verurteilung dieser Wirtschaftsweise durch das II. vatikanische Konzil (GES 26) finden die den Kapitalismus schützenden Konzepte und Lehrmeinungen viele Anhänger im mittelständischen und unternehmerischen Milieu. Selbst in weiten Kreisen katholischer Sozialverbände wird die seinerzeit von Franz Hitze postulierte systemimmanente Sozialpolitik der Systemkritik und Systemüberwindung noch immer vorgezogen.
Folgen wir aber dem von Papst Benedikt XVI. erhobenen Anspruch von “Liebe in Wahrheit” konsequent, führt dieser Ansatz – selbst wenn vom Papst eventuell so nicht bedacht -an die traditionellen Denkschranken und ermutigt zu deren Überwindung.

Denkschranken überwinden
In einer auf “Liebe in Wahrheit” gegründeten Gesellschaft hat “Profitvorbehalt im wirtschaftlichen Tausch” keinen Platz mehr. Bislang besitzlose Arbeitnehmer sind dann als unternehmende Arbeiter mit dem für ihren (auch kooperativen) Arbeitsvollzug notwendigen Eigentum an Werkgut, den Produktions- und Arbeitsmitteln ausgestattet. Spekulativem Investment ist die Basis entzogen, da die Betriebe sachbezogene Personalverbände im Eigentum der Mitarbeiter sind.

In meinem Brief vom 9. März 2009 wies ich den Papst auf die wegweisenden wissenschaftlichen Vorleistungen der Wirtschaftsethiker Johannes Kleinhappl, Leopold Kohr und Johannes Heinrichs hin. So lag es jetzt nahe, in einer ersten Betrachtung der Sozialenzyklika auf Affinitäten zu deren Ansätzen zu achten.
Den Kapitalismus überwinden
Jedem Menschen das seine, dass ihm Gebotene geben! (CiV 6) Volle Gerechtigkeit auch in den existenziellen wirtschaftlichen Dimensionen – der von seinem Jesuitenorden des Lehrstuhls enthobene Johannes Kleinhappl hatte diesen Anspruch als Kern der Arbeitswertlehre erhoben und systematisch entfaltet. Zur Enzyklika “Populorum Progressio” hatte Kleinhappl notiert: “Diese Enzyklika ist vielleicht die fortschrittlichste von allen bisher erschienenen päpstlichen Enzykliken zur sozialen Frage, obwohl auch in ihr die letzten Fragen einer von den Sachzwängen der kapitalistischen Wirtschaftsweise befreiten Arbeits-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht vollinhaltlich zu Ende gedacht und entwickelt werden.” Das scharfe Urteil des Papstes über den ungehemmten Liberalismus (PP 26) gehöre “zweifellos zu den mutigsten und bedeutendsten, die in der gesamten Geschichte päpstlichen Rundschreiben sozialen Frage bisher ausgesprochen wurden. Dennoch gilt auch hier, darauf die nötigen Schlussfolgerungen in den Fragen von Arbeit und Eigentum, Arbeit und Tausch, Eigentum und Einkommen zu ziehen.” (Zitate aus: Johannes Kleinhappl, Kirchliche Kapitalismuskritik, Analysen, Essays und Fragmente aus dem Nachlass, Bd 3, S. 287)
“Rechte entstehen aus Pflichten, aus dem Anspruch auf alles, was die Erfüllung der Pflichten ermöglicht”, diese Auffassung Kleinhappls hatte bereits Papst Paul VI. aufgegriffen (PP105 ff). Benedikt XVI. bestätigt diese Überlegungen ausdrücklich.
Wenn der heutige Papst derartige Einsichten neu hervorhebt, sollten sich nicht nur in die Jesuiten aufmachen, den verdrängten Erkenntnisschatz ihres Ordensbruders Prof. DDr. Johannes Kleinhappl zu heben.
Small is beautifull
Nur schemenhaft, aber noch erkennbar verweist der Papst auf die Bedeutung regionaler, subsidiärer Strukturen im Aufbau gesellschaftlicher Organisationen und politischer Autoritäten. Diesen Denkansatz kompetent weiterzuführen bedarf es mehr als theologischer Kenntnisse.
Die Einsichten und wissenschaftlichen Erkenntnisse des Nationalökonomen und Staatsrechtlers Prof. Leopold Kohr können dem zeitgemäßen Ansatz der Regionalität neue Schubkraft verleihen, völlig im Einklang mit der Enzyklika.
Schade, dass der Papst hierzu keinen Rückgriff formulierte.

Schuster, bleib bei deinen Leisten!
Mir scheint, als habe der Dogmatiker Ratzinger versucht, diesen Anspruch zu halten, sich aber dem Erwartungsdruck an eine Sozialenzyklika gebeugt.
Wo es um die Anwendungsfelder der ethischen Ansprüche geht, wird die Enzyklika in weiten Teilen unpräzise.
Ist deshalb seine Enzyklika sozialwissenschaftlich belanglos? Ein “Schrottpapier”, wie der Jesuit Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach formuliert?
Bestätigt der Papst nicht die gesellschaftliche Verantwortung eines jeden Christen und das entsprechende politisch-soziale Engagement als christliche Zeugnis der Liebe, als Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft (CiV 4-6).
Welche Korrekturen an innerkirchlichen Struktur-und Pastoralreformen würde es auslösen, diesen Anspruch ernst zu nehmen?
Reflexionslogik
Lege ich als Maßstab die von Johannes Heinrichs entwickelte viergliedrige Reflexionslogik an, werden die Konturen deutlicher.
Fachliche Domäne des Papstes ist die Dogmatik, auch wenn sein wissenschaftlicher Einsatz seit Jahrzehnten umstritten ist. Damit liegt Benedikt XVI. mit seinem argumentativen Ansatz theologisch fundierter Ethik im Heinrichs´schen Legitimationssystem.
Hier ist sein Platz und hier ist der Hauptdiskurs zu führen.
Einbindung der Subsysteme
Der Papst fordert die Einbindung der Wirtschaft in moralisch akzeptable, kulturell getragene und politisch vereinbarte Rahmenbedingungen (CiV 36 ff). Wer diesen Gedanken konsequent aufgreift und verfolgt, tut gut daran, sich an der von dem Sozialphilosophen Prof. Dr. Johannes Heinrichs entwickelten viergliedrigen Reflexionslogik zu orientieren.
Auch die Ergänzung staatlicher Kompetenzen um die zivilgesellschaftliche Partizipation der Bürger und ein System ethisch verankerter Global Gouvernance korrespondiert mit den Anforderungen, die Heinrichs in der “(R)Evolution der Demokratie” erhebt.
Diese Ansätze weiter zu verfolgen, schafft Rahmenbedingungen, damit die Entwicklung sozialer Strukturen dem reflektierten zwischenmenschlichen Handeln entspricht.
Eigene Verantwortung
Die gedanklichen, oft mangelhaften Ausflüge des Papstes in die gesellschaftlichen Subsysteme der Kultur, Politik und des Wirtschaftens mögen uns anregen, in eigener Sachkompetenz gemäß den ethischen Anforderungen das jeweilige Feld zu bestellen.
Engagieren wir uns in den Sphären unserer Kompetenzen und bringen uns von dort her in den umfassenden und übergreifenden Dialog ein.
Reflexionskultur entwickeln
Es ist noch ein weiter Weg zu der von Johannes Heinrichs aufgezeigten Reflektionskultur. Doch wer hindert uns, den Weg zu gehen? Der Papst wird es wohl nicht sein.
Er fordert auf zum Dialog, nehmen wir ihn ernst.
Wie es aber unter in ihrer Würde gleichen Menschen üblich sein sollte, führen wir solchen Dialog dann bitte nicht nur über den Papst, sondern wo angezeigt mit ihm.
Das Wort Jesu “Du aber stärke deine Brüder” sollte nicht allein Petrus gelten, sondern eine Aufforderung an uns alle sein.
Kirche ist gefordert
Wie wirksam sich die Enzyklika erweist, hängt vor allem davon ab, ob die Kirche selbst die für solche Entwicklungen nötige Kultur der Ermutigung entwickelt.
Der traditionelle und neu gestärkte Trend zu zentralistischen Strukturen erweist sich jedoch kontraproduktiv. Zu solchem Widerspruch innerkirchlichen Verhaltens zur eigenen Soziallehre hätte mein Großvater gesagt: “Was sie mit den Händen aufbauten, schmeißen sie mit dem Hintern um!”
Heute wird solcher Widerspruch als “mangelnde Authentizität” gewertet.
Doch keine Christin, kein Christ ist verpflichtet, die unzureichende Authentizität der Kirche auf das eigene Engagement zu übertragen.
In solchem Selbstverständnis darf auch der Papst unzulänglich und fehlerhaft sein.
Unzureichend, doch ermutigend
Die Sozialenzyklika des zum Papst gewählten Dogmatikers Joseph Ratzinger mag sozialwissenschaftlich unzureichend sein.
Die theologisch-ethischen Reflexionen über “caritas in veritate in re sociali” schaffen jedoch ausreichend Orientierung für wahres humanitäres Engagement.
Technische Lösungen herrschaftsfreier Gesellschaftsordnungen auf lokaler, regionaler, nationaler oder globaler Ebene sind nicht Sache der Kirche.
Christen und Menschen guten Willens können sich aber ermutigt sehen.
Ermutigt, wo sie zur Überwindung des menschenverachtenden Kapitalismus beitragen.
Ermutigt, wo sie im regionalen Engagement eine im Lebensraum verankerte, subsidiär strukturierte Gesellschaft aufbauen.
Ermutigt, wo sie in gemeinsamen Reflexionen die zwischenmenschlichen Strukturen entwickeln und zu umfassender Demokratie beitragen.

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