„Der Würde wegen“ – geplant war das neue Buch als ein Zwischenbericht zur Arbeit der Initiative Verfassungskonvent. Dass daraus nun mehr wurde, hat unterschiedliche Gründe. Ein erster Grund war technischer Art. Die bisherigen Tagungserklärungen mit verbindenden Erläuterungen hätten die für ein Buch notwendige Zahl von 49 Seiten nicht erreicht. So entstand die Idee, Mitstreiter der Initiative einzuladen, sich mit eigenen Überlegungen zu den Grundwerteartikeln des bestehenden Grundgesetzes einzubringen. Die eingebrachten Beiträge lösten zwar das Problem der Seitenbeschränkung, die geringe Resonanz auf die Einladung selbst (vier Beiträge) gab allerdings zu denken.
Durch diese Einladung ausgelöst wurden auch Fragen an die Initiative herangetragen, die es gründlich zu klären und zu beantworten galt. Gefragt wurde nach dem Verhältnis der Initiative zum Verein „Verfassung vom Volk“ (VvV) in Hannover. Zu bedenken und zu beantworten war durch die Anfrage die Position der Initiative im Gesamtspektrum der Demokratiereformer.
Diese Überlegungen lösten weitere Fragen und weiteres Nachdenken aus.
- Welche Resonanzen erhielten wir zu den Ergebnissen der bisherigen Konferenzen?
- Welche Wirkungen lösten die von uns erarbeiteten Einsichten aus?
- Wo sind die Mitinitiatoren, Akteure und Teilnehmer der bisherigen Konferenzen verblieben? Warum sind sie nicht mehr bei den Mitwirkenden? Wofür engagieren sie sich inzwischen?
- Wie steht es mit der Vernetzung bisheriger Tagungs-Teilnehmer? Konnten wir ein Energiefeld bilden?
- Konnten wir über den angestrebten Bürgerdialog auf die politische Debatte einwirken?
- Wie weit ist uns eine Um-Orientierung der politischen Debatte von der Zuständekritik, Delegitimation und Destruktion hin zur konstruktiven Demokratieentwicklung gelungen?
- Wie und wo tragen unsere Einsichten und Erklärungen zu einer Kultivierung moderner Demokratie bei?
Die Debatte um nationale und europäische Flüchtlingspolitik und die Wahlkämpfe zur Drei-Länder-Wahl vom 13. März 2016 offenbaren eine Verwahrlosung demokratische Kultur durch alle Parteien und gesellschaftlichen Schichten. Die wachsende Wahlbeteiligung dieses Wochenendes kam den Populisten zugute, als Denkzettel-Wahl delegitimierte sie die arrivierte politische Klasse und hievte die Demokratieverweigerer der AfD zur starken parlamentarischen Opposition.
Nehmen wir diese Entwicklung und die eigene Zwischenbilanz zum Anlass, unsere Strategie zu überdenken?
Nüchtern betrachtet, agiert die Initiative Verfassungskonvent zunehmend im resonanzsarmen bis resonanzfreien Raum. In bisher vier offenen bundesweiten Konferenzen wurden grundlegende Einsichten zu den Ansprüchen moderner Demokratie erarbeitet. Diese Einsichten sind geeignet, zur Kultivierung eines modernen demokratischen Verhaltens beizutragen. Zu solcher Kultivierung allerdings bedarf es Partnerschaften mit Bildungsträgern, die über ihre Multiplikatoren breite Bevölkerungskreise erreichen. Solche Partnerschaften haben wir nicht aufgebaut. Gesellschaftlich relevante NGO gehören nicht zu unseren Kooperationspartnern.
Die Arbeit am Manuskript „Der Würde wegen“ nötigte mir eine gründliche Reflexion unserer bisherigen und zukünftigen Strategie auf. Die offenen Bundestagungen von Bad Honnef (2012) bis Neustadt (2015) haben uns zu guten Einsichten über die Ansprüche moderner Demokratie geführt. Nun aber gilt es diese Einsichten sowohl zu Verfahrensregeln zu formen, wie auch als wirksames demokratischen Verhalten zu kultivieren. Ein Verfassungskonvent, wie wir ihn anstreben, wird erst erfolgreich arbeiten können, wenn er vom konstruktiven Verhalten und Willen breiter Bevölkerungsschichten getragen wird. Von solchem Verhalten und Willen ist derzeit nur wenig erfahrbar.
Persönlich erlebe ich die Mitarbeit im Koordinationskreis der Initiative seit längerem als arm an Resonanz. Im Herbst 2015 hatte ich befreundete Personen aus verschiedenen Leser-Zielgruppen eingeladen, als Testleser das Manuskript meines Buches „Nur mal angenommen… … Demokratie ginge anders“ inhaltlich zu bewerten. Konstruktive Kritik bis hin zu hohem Lob machten Mut zur Drucklegung. Das demonstrative Desinteresse der Kollegen im Koordinationskreis auch nach der Veröffentlichung zeigte mir, dass meine Überlegungen zur Demokratiereform als auch zur Kultivierung modernen demokratischen Verhaltens in diesem Kreis keine Unterstützung finden. In gleicher Richtung interpretiere ich deren Schweigen zu meinem Vortrag in Berlin im Januar 2016 und meine Anmerkungen zu den Zielen des VvV.
Kenner der „Open-space“-Tagungsmethode wissen, in solcher Situation greift das „Gesetz der zwei Füsse“. Kann man einer Arbeitsgruppe nichts mehr geben, hat man zu gehen. Als „Hummel“ oder „Schmetterling“ kann man an anderer Stelle neu wirksam werden. Das hört sich gut an und ist in einer Wochenend-Konferenz problemlos umsetzbar.
Nach langjährigem Engagement bei guter Zusammenarbeit fällt solcher Schritt weit schwerer. Die verweigerte Resonanz jedoch wurde immer greifbarer, belastender und führte bei mir zu Blockaden. Herzlichen Dank gilt den Freunden, die mir halfen, mich den Zweifeln und Selbstzweifeln bewußt auszusetzen und eine Entscheidung wachsen zu lassen.
Nun werde ich wieder „hummeln“. Wo meine Überlegungen zur Kultivierung moderner Demokratie Anklang fanden, finden und Werzschätzung erfahren, werden wir gemeinsam nach Wegen suchen, Prozesse einzuleiten, die ich als „Unterwegs zur ethischen Selbstverantwortung“ in „Nur mal angenommen… … Demokratie ginge anders“ (Seite 163 -209) beschrieben habe.
Dabei geht es wesentlich darum, zwei Grundpfeiler moderner Demokratie zu stärken
- hohe Themen- und Sachkompetenz in der breiten Bevölkerung (beruflich oder ehrenamtlich bedingt)
- Legitimationskompetenz aus der Lebensraum-Verantwortung.
Die Kultivierung derartiger Prozesse erst kann den Boden bereiten für den angestrebten Verfassungskonvent. Diese Entwicklung mag begleitet werden von Tagungen, wie sie bisher bei der Initiative Verfassungskonvent im Zentrum standen und stehen. Ohne solche Kultivierung jedoch bleiben die Tagungen weiterhin wirkungslos im resonanzfreien Raum.
Mein Abschied vom Koordinationskreis der Initiative ist also keineswegs ein Abschied von der Idee eines zivilgesellschaftlichen Verfassungskonventes. Er markiert aber den überfälligen Strategiewechsel, solchem Konvent eine tragfähige Basis in der Bevölkerung zu geben.
Hinterlasse eine Antwort