Braucht die Bundesrepublik Deutschland eine Verfassung? Sie hat doch seit dem 23. Mai 1949 ein Grundgesetz. Ist das etwa nicht mehr gut genug? Ist solch „nationales“ Engagement noch lohnenswert angesichts europäischer Einigungen?
Berechtigte Fragen und Anmerkungen, die einen Rückblick verlangen in die Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes und die Bedingungen an eine “neue” Verfassung.1949 – Das Grundgesetz als Notbau für den westdeutschem Teilstaat
Das Grundgesetz gilt unter Staatsrechtlern als völkerrechtlich anerkannte unverbindliche Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland, auch wenn diese Verfassung den Namen „Grundgesetz“ trägt.
Doch genau mit dieser Benennung wollten die Mitglieder des parlamentarischen Rates, die dieses Grundgesetz 1949 beschlossen, die Eigentümlichkeit der bundesrepublikanischen Verfassung kennzeichnen. Denn wichtige Kerneigenschaften einer modernen Verfassung fehlen dem deutschen Grundgesetz:
- Mit einer Verfassung konstituiert sich ein Volk als völkerrechtlich gültigen Staat. Einen Staat aber wollte der parlamentarische Rat eben nicht gründen. Wie Professor Carlo Schmidt in seiner Rede vor dem parlamentarischen Rat ausführte, ging es darum, dem westdeutschen Teilstaat eine provisorische Ordnung bis zur erhofften deutschen Wiedervereinigung zu geben.
- Üblicherweise gibt sich das Volk seine Verfassung. Das war 1949 nicht möglich, denn das Volk war geteilt. Ein dem Besatzungsrecht der westlichen Alliierten unterworfener „parlamentarischer Rat” gab der zu gründenden Bundesrepublik die Grundstruktur, ohne die auch ein Teilstaat nicht bestehen kann.
1990 – Ein Machtbunker für die Parteien
Ebenfalls 1949 konstituierte die sowjetische Besatzungsmacht im ostdeutschen Teilstaat die Deutsche Demokratische Republik (DDR).
Vierzig Jahre dauerte es bis zur friedlichen Revolution der DDR-Bürger, dass die vom parlamentarischen Rat erhoffte Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde. Der Rat hatte für diesen Fall im Grundgesetz vorsorglich eine Regel festgeschrieben, den Art. 146 GG:
„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Vierzig Jahre Zeitgeschichte mit je eigener politischer Dynamik in den beiden Teilstaaten hatten neue Machtkonstellationen und politische Interessen geformt. Zwar nahm noch ein „Runder Tisch der DDR” die Arbeit auf sich, basierend auf dem Grundgesetz einen Entwurf für eine deutsche Verfassung vorzulegen, doch in Westdeutschland – in der Bundesrepublik – waren weder Regierung, Bundestag oder Parteien (mit Ausnahme der Grünen) an einem Votum des Volkes gelegen.
Während im Grundgesetz von 1949 den Parteien ein Mitwirkungsrecht an der politischen Willensbildung des Volkes eingeräumt wurde, hatten sich inzwischen die Parteien die oligarchische Herrschaft über die deutsche Gesellschaft angeeignet.
Für die Besetzung von Führung- und Spitzenpositionen in Kultur, Medien, Sportverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, vor allem auch für Betriebe und Obligationen zur Sicherstellung der Infrastruktur (Energieversorger, Verkehrsbetriebe, Bildungseinrichtungen) war Fachkompetenz zwar nicht hinderlich, entscheidend wurde jedoch eine entsprechende Parteinähe oder besser noch Parteizugehörigkeit.
Die etablierten Machteliten hatten kein Interesse daran, sich einer Verfassunggebenden Versammlung des Volkes zu stellen.
Jedes Votum des Volkes vermeidend erklärten sie die DDR zum Beitrittsgebiet in die bestehende Bundesrepublik nach Art. 23 GG und verfügten mit dem Einigungsvertrag die Geltung des Grundgesetzes auch für die fünf neuen Bundesländer.
Dem Anspruch des Art. 146 GG glaubten die Einigungspolitik durch einen Texteinschub ausweichen zu können:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Paradox oder logisch? Die Bedingungen an eine Verfassung
Warum haben uns Bundesregierung und Bundestag mit der Wiedervereinigung 1990 nicht eine neue Verfassung gegeben? Die Antwort ist simpel, scheint paradox und ist doch logisch: weil sie das weder können noch dürfen!
Verfassung bindet die Verfassungsorgane
Die politischen Institutionen, die wir üblicherweise als Verfassungsorgane bezeichnen, unterliegen der Verfassung und sind nicht berechtigt, sich ihrer eigenen Grundlage zu entäußern. Die Fachleute sprechen hier von der pouvoir constitué, also der konstituierten, verfassten Staatsgewalt.
Allein das Volk ist Herr der Verfassung
Diese aber unterliegt der pouvoir constituant, der konstituierenden, also verfassenden Gewalt, die allein dem Volk, dem Souverän der Verfassung, zusteht. Nur das Volk legitimiert die verfassten Staatsgewalten und nur das Volk kann diese Legitimation entziehen und neu verfassen.
Eindeutig äußert sich dazu das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1951:
“Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die aufgrund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des pouvoir constituant. Mit dieser besonderen Stellung ist unverträglich, dass ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden. (…) Ihre Unabhängigkeit bei der Erfüllung dieses Auftrages besteht nicht nur hinsichtlich der Entscheidung über den Inhalt der künftigen Verfassung, sondern auch hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung erarbeitet wird.” ( Urteil des BVerfG vom 23. Oktober 1951, II. Senat, Leitsatz 21 und 21 c)
Kein Verfassungsorgan kann eine solche verfassunggebende Versammlung, auch Verfassungskonvent genannt, einberufen. Eine solche Einberufung entspräche dem aus der Mode gekommenen und im Strafrecht gestrichenen Begriff des Hochverrat.
Nur das Volk – doch wer im Volk und wie soll das Volk so etwas organisieren?
Revolution oder re-volunta?
Jeder deutsche Staatsbürger kann die Initiative zu einer neuen Verfassung ergreifen. Für ein Referendum über einen Verfassungsvorschlag ist allerdings die Mehrheit der Wahlberechtigten des Volkes zu gewinnen.
Psychologisch aber auch machtpolitisch verständlich, dass sich verfassunggebende Versammlungen zumeist infolge von Staatsstreichen oder Revolutionen konstituieren. Erst eine weit greifende Empörung über wirtschaftliche, soziale und politische Missstände, erst eine Metamorphose von Untertanen zu Wutbürgern bereitet üblicherweise den Boden für einen Verfassungskonvent. Doch in der aufgeladenen Stimmung einer Wutbürger-Revolution verdampft zumeist das notwendige klare konstruktive Denken.
Das Beseitigen erfahrener und erlebter Missstände ist leider nicht identisch mit dem Aufbau zukunftsichernder, gemeinwohlorientierter Ordnungen.
Es bedarf einer ruhigen und aufgeregten, aber konzentrierten Arbeit um die Spielregeln zu entwickeln, die ausgehend vom politischen Willen des Volkes zu demokratisch getragenen, in Rückkopplung mit dem Volk konsensierten demokratischen Entscheidungen führen. Solche re-voluntas (Rückbezüge auf den Volkswillen) sind selbst in modernen Demokratien unüblich und ungewohnt.
Eine solche Demokratie begründende Verfassung wird zu Recht erst dann von der Mehrheit des Volkes getragen werden, wenn dieses Volk konsequent und konstruktiv in die Entwicklung des Verfassungsentwurfs einbezogen wird.
So liegen also die Bedingungen für eine dem Anspruch des Art.146 GG entsprechende deutsche Verfassung klar vor uns.
Doch lohnt sich der immense Aufwand? Benötigt das deutsche Volk überhaupt eine neue Verfassung, um den modernen Anforderungen an eine demokratische Politik gerecht zu werden.
Die Antwort dazu hängt von den Qualitätsanforderungen an “demokratische Politik” ab.
Das aber ist ein anderes Kapitel.
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