Wieder ist Freitag vor Pfingsten. Wieder verspricht es, ein sonniger Tag zu werden. „Freitag vor Pfingsten“ – seit 2000 hat sich dieser Tag in mein Leben eingebrannt. Weniger das damalige Datum, 9. Juni 2000, als die lebendige Erfahrung des Freitag vor Pfingsten.
Es war dieser Tag im Jahr 2000, der wie ein psychisches Erdbeben mein Leben in neue Bahnen warf.
Plötzlich und unerwartet starb meine Frau Helga an den Folgen extremer Fahrlässigkeit des behandelnden Internisten. Wie das Kölner Landgericht nach jahrelangem Prozess zu diesem Urteil kam, habe ich im Protokoll eines vermeidbaren Todes dokumentiert.
Freitag vor Pfingsten – der Schock ist längst abgeklungen, Schmerz und Trauer vergangen. Doch es blieb mehr als nur die Erinnerung an 30 Jahren Gemeinsamkeit. Auch 18 Jahre nach ihrem Tod hat Helga eine Präsenz in meinem Leben, die weit über die Erinnerung an andere verstorbene Familienmitglieder hinausgeht. In luziden Träumen taucht ihr Bild auf, mal unterstützend lächelnd, mal mir den Vogel zeigend zu meinen aktuellen Ideen und Plänen. Eine geistige Verbindung, von der Quantentheoretiker mir sagen, ihr Energiefeld sei ja nicht gestorben.
Wie immer verschmelzen Erinnerungen mit gegenwärtigen Eindrücken. So verändert sich mein Blick auf aktuelle Fragen. Heute verbindet sich die Erinnerung an Helga mit dem Phänomen „soziale Netzwerke“. Schon lange stört mich das Attribut „sozial“ in Verbindung mit Facebook, Google+ und Co. Sie sind digitale und virtuelle Netze, deren Aufkommen und inzwischen erreichte globale Macht Helga nicht mehr erlebt hat.
Sie war eine wirklich soziale Netzwerkerin. Als Diplom-Sozialpädagogin prägte sie die Entwicklung der Jugendsozialarbeit vor allem in Nordrhein-Westfalen, darüber hinaus in Deutschland mit. Durch ihren Tod verlor die Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk seine stellvertretende Bundesvorsitzende. Ihr Tod habe ein Loch gerissen, hieß es in den diversen Kondolenzschreiben.
In den von ihr mitgestalteten sozialen Netzen war ein Riss entstanden. Diese Netze waren nicht virtuell und digital, es waren Beziehungsnetze realer Personen. Menschen, die sich kannten, begegneten und sich persönlich austauschten. Die Risse und Löcher in diesen Netzen erlebte ich durch ausbleibende Kontakte und Absterben der Beziehungen. Es waren im Wesentlichen ihre Beziehungen, in die ich als Ehepartner eingebunden war. Wo Helga der Knotenpunkt im Geflecht war, lösten sich die Verbindungen. Neue Verbindungen und Beziehungen traten an ihre Stelle und prägen heute mein Leben.
Facebook und Co. haben auch in dieses Leben Einzug gehalten. Als virtuelles und digitales Info-System vermögen sie die soziale Kraft der vitalen Beziehungsnetze zu stützen. Falsch genutzt und als Ersatz angesehen können sie die Netze echter Beziehungen schwächen und zerstören.
Wie sehr es auf vitale Netze ankommt, erfahren meine heutige Partnerin und ich aktuell bei unserer Integration in unserer alten/neuen Heimat Münsterland. Chorgemeinschaft, Nachbarschaft, kommunales Engagement, Tagungen oder Stellensuche – virtuelle Netze zeigen ihre unterstützenden und häufig nervenden Seiten – gestaltend und tragend aber sind die menschlichen, die echten sozialen Kontakte und Netze.
Die Gedanken wandern in luzide Tagträume. Aus ihrem weiterhin lebendigen Energiefeld grüßt Helga – lächelnd.
Es ist Freitag vor Pfingsten.
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