Deutschlands Schicksalstag?

Und wieder 9. November! Und wieder deutscher Gedenktag. „Deutschlands Schicksalstag“ heißt es in den diversen Medien, als haben an den 9. Novembern verschiedener Jahre germanische Schicksalsgöttinen mit dem deutschen Volk gespielt. Als hätten sie Eingriffe ins Leben dieses Volkes vollzogen. Eingriffe, derer sich niemand erwehren konnte und die unausweichlich waren – Weichenstellungen der Geschichte, denen ein Volk ausgeliefert ist. Schicksal eben!

Waren aber die das deutsche Volk prägenden historischen Ereignisse an so unterschiedlichen 9. Novembern unausweichliches Schicksal? Haben hier nicht Menschen gezielt politische Macht manifestiert – mal diktatorisch, mal demokratisch?

Wessen wird an diesem Tag gedacht? Dazu lohnt ein tieferer Blick in die Geschichte. Ein Blick auf historische Ereignisse, die mit diesem Datum verbunden sind:

  • Dem 80. Jahrestag der Reichsprogrom-Nacht vom 9.11.1938 wird bundesweit in Veranstaltungen gedacht. Das ist gut und in Zeiten des Rechtspopulismus dringend notwendig.
  • In verschiedenen TV-Sendungen und Printmedien wird an die Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann am 9.11.1918 erinnert. Auch diese Erinnerung tut gut – selbst wenn fälschlicherweise „Republik“ und „Demokratie“ in einen Topf geworfen und verwechselt werden.

Es war ein großartiger und überfälliger Schritt, die Legitimation zur Ausübung politischer Herrschaft nicht mehr im kaiserlichen Gottgnadentum zu verankern, sondern im Wahlentscheid des Volkes. Res publica – Sache des Volkes sollte es sein, die Regierung zu wählen und zu legitimieren.

70 Jahre vor dem Kaisersturz von 1918 schon hatten Bürger der deutschen Länder diesen Anspruch erhoben. Zu den Wortführern und Vorkämpfern der überall in Europa wirksamen Reformbewegung von 1848 gehörte der Kölner Robert Blum. Als Führer der demokratischen Fraktion der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche erhob Blum immer wieder seine Stimme für ein freies Europa der selbstbestimmten Völker. Den Anhängern der alten, monarchischen Herrschaftsformen rief er zu: “Aber wenn Sie Ihre Fürsten lieben. So treten Sie dem immer wuchernden Glauben entgegen, dass die Fürsten mit ihren dynastischen Interessen ein Hindernis bieten für die Entwicklung unserer Zustände, – geben Sie dem Volke das Vertrauen, dass Sie ebenso sehr die Übergriffe von der einen wie von der anderen Seite in die Schranken zu weisen entschlossen sind!“ (Rede vom 16.9.1848 vor der Frankfurter Nationalversammlung). Nach der Konterrevolution der Fürstenhäuser wurde Robert Blum am 4.11.1848 von den kaiserlichen Truppen in Wien verhaftet und am 9. November unter Mißachtung seiner Immunität als Abgeordneter standrechtlich erschossen.

70 Jahre dauerte es noch, dass seine Vision einer Republik politische Realität wurde. 70 Jahre – bis die Fürsten am Ende ihrer Macht waren. Max von Baden, Reichskanzler und badischer Kronprinz, resignierte und übertrug die Kanzlerschaft an den Führer der Arbeiterbewegung, Friedrich Ebert. Am gleichen Tag riefen Scheidemann die „deutsche Republik“ und Karl Liebknecht die „deutsche Räterepublik“ aus. Das Kaiserreich war am Ende, die Republik wurde Realität.

Doch war es eine anfällige Realität – zerrissen in ideologischen Kämpfen, die mit brutaler Gewalt ausgetragen wurden.

Auch davon zeugt der 9. November:

  • 1923 wurde an diesem Tag in München der Hitler-Ludendorff-Putsch blutig niedergeschlagen. In der anschließenden Haft in Landsberg entschied sich Hitler gegen neue Putsche, nun wollte er die Macht im Reich über demokratische Wahlen erringen.
  • Genau zwei Jahre später ordnete auf dem NSDAP-Parteitag der vorzeitig aus der Festungshaft entlassene NSDAP-Führer Adolf Hitler die Umbenennung des im April 1925 gegründeten Sturmkommandos in Schutz-Staffeln SS an.
  • Nationalsozialisten entfernten in antisemitischer Aktion am 9.11.1936 das Denkmal des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy vor dem Leipziger Gewandhaus. Aus Protest darüber erklärte OB Carl Friedrich Goerdeler seinen Rücktritt.
  • Zum 9.11.1938 organisierten die Nazis ihre bereits langjährigen antijüdischen Aktionen als landesweites Progrom. Brennende Synagogen, Anschläge auf jüdische Einrichtungen und tödliche Gewalt gegen jüdische Mitbürger wurden zum öffentlichen Auftakt der nationalsozialistischen Judenvernichtungspolitik.

Nach der Katastrophe des „Dritten Reiches“ und dem von dort ausgehenden Holocaust und Zweiten Weltkrieg  formierte sich das deutsche Reich wieder als Republik, diesmal als Bundesrepublik Deutschland. Und wieder finden wir am 9. November verschiedener Jahre wichtige Weichenstellungen zur Entwicklung dieser Bundesrepublik:

  • Am 9. November 1949 beschlossen die Außenminister der Westalliierten die Aufnahme jener Verhandlungen, die schließlich zum Petersberger Abkommen führten.
  • „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ skandierten am 9. November 1967 Studenten der Hamburger Universität zur Amteinführung des neuen Rektors und leiteten den Umbruch ein, der als 68er – Revolte die Republik dauerhaft prägte.
  • Und es war ein 9. November, als 1989 die DDR implodierte, Berliner Mauer und folgend der Eiserne Vorhang durch Europa fiel.
  • Die Terror-Anschläge in den USA vom 11. September 2001 und der folgende „Krieg gegen den Terror“ hatten auch in Deutschland Nachwirkungen: am 9.11. 2007 beschloss der Deutsche Bundestag das umstrittene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.

Nur mal angenommen, wir würden die Erinnerungskultur zum 9. November nicht allein auf Mauerfall und Nazi-Terror reduzieren. Statt dessen würden wir die historische Vielfalt dieses Datums zu einer Reflexionskultur republikanischer und demokratischer Visionen ausdehnen, Abgründe und Höhenflüge gleichermaßen annehmend. Vielleicht schüfe solche Reflexion eine tragfähige Ausgangslage, um ausgehend von der Republik als durch Wahlen legitimierte Regierung Wege in moderne Demokratie zu finden. In eine Staatsform, in dem die für das Gemeinwesen bindenden Normen und Regelungen von der Mehrheit der Betroffenen beraten, legitimiert und akzeptiert werden.

Ein langer, vor uns liegender Weg, zu dem wir uns vielleicht an einem 9. November aufmachen.

Es darf aber auch jeder andere Tag zu einem Tag des Aufbruchs werden.

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