Working poor – Arm durch Arbeit?

KSI und Europäisches Zentrum für Arbeitnehmerfragen, EZA und hatten eingeladen zur Europäischen Tagung nach Bad Honnef, gefördert von der EU. Vom 2.-4.Mai 2012 galt es, eine Situationsbeschreibung zur Armut von Arbeitnehmern und Analysen von Hintergründen vorzulegen sowie der Diskussion von Strategien und Konzepten der Armutsbekämpfung Raum zu geben.
Mein Resümee zu Beginn: Ihren Wert gewann diese Tagung weniger durch die wiederholt vorgetragenen und aktualisierten soziologischen Befunde als vielmehr durch die schärfer akzentuierten Fragestellungen.

„Worin besteht das Wesen, was sind die Ursachen und Wurzeln der Missstände, die in der Gesellschaft vorhanden sind, und was sind die Heilmittel zu deren Behebung?“, hatte bereits 1947 der Moraltheologe und Innsbrucker Ordinarius für Wirtschaftsethik, Professor Johannes Kleinhappl die ewige und ständig neue soziale Frage definiert.
Die in Bad Honnef vorgelegten Befunde (vor allem von TeodoraTchipeva, EU und Dr. Frank Bauer, IAB) belegten zum wiederholten Mal die Existenz gesellschaftlicher Gruppen in den Ländern der EU, die zwar gute geistige und körperliche Arbeitskräfte ihr Eigen nennen, der Einsatz dieser Kräfte ihnen aber weder wirtschaftliche Existenzsicherung noch kulturelle Teilhabe erlauben. Sie verfügen nicht über die Arbeitsmittel, an denen sie ihre Arbeitskraft betätigen könnten. So sind
sie in Erwerb, wirtschaftlicher Existenzsicherung und gesellschaftlicher Teilhabe abhängig von jener Gruppe, die so viel an Arbeitsmitteln und Werkgut in ihrer Gewalt und unter Kontrolle hat, dass sie daran fremde Arbeitskräfte gemäß eigener Bedingungen beschäftigen kann.

War diese strukturbedingte Erwerbsabhängigkeit in der Jahren breiter gesellschaftlicher Konsummöglichkeiten und vorgeblicher Sozialpartnerschaft vielfach außer Blick geraten, so gewinnt sie seit dem Wegfall des ideologischen Gegenmodells „Kommunismus“ durch die ungebremste Profitorientierung der Wirtschaftsbeherrscher neue Brisanz.

Das während der Tagung mit dem Begriff „working poor“ bezeichnete Phänomen greift vielschichtig:

  • Armut trotz Arbeit
  • Armut durch Arbeit bei Dumpinglöhnen
  • Armut durch ungesicherte Arbeitsverhältnisse
  • Existentielle Abhängigkeit durch „Arbeit pur“ ohne Zugriff auf not-wendende Arbeitmittel
  • In der Arbeit erbrachte Wertschöpfung wird von Anderen abgeschöpft (arbeitslose Einkommen)

Die soziologisch nachweisbare Ausweitung der „Armut bei/durch Arbeit“ wird begleitet von den wachsenden Einkünften derer, die den Zugriff auf arbeitslose Einkommen haben.

Leider konnte die Frage nach dem Anteil gesamtgesellschaftlicher Wertschöpfung durch unterbezahlte oder unbezahlte
Arbeit nicht beantwortet werden, dazu fehlte die Datenbasis.
Die Ausführungen von Frau Tchipeva zeigten, wie ein mittlerer bis hoher Beschäftigungslevel (0.5-0.8) das arbeitsbedingte
Armutsrisiko drastisch senkt, die weitere Erhöhung des Beschäftigungslevels auf „Very High (0.8-1.0)“ allerdings keine wesentliche Risikostabilisierung bringt.
Hier eröffnen sich Denk- und Arbeitsansätze für Arbeitsverteilungskonzepte im Sinne einer Tätigkeitsgesellschaft.

Die von den Referenten vorgetragenen Strategien der EU zur Armutsbekämpfung konzentrieren sich auf

  • Aktive Eingliederungspolitik bei Flexibilisierung der Arbeitsmärkte
  • Anhebung des Lohnniveaus
  • Steigerung der Arbeitsintensität

Seitens der Teilnehmer zeichnete sich ab, dass vor allem eine materielle Grundsicherung durch (indexierte)Mindestlöhne, bedingungsloses Grundeinkommen und Ausbau der Arbeitsintensität pro Haushalt favorisiert werden. An der Situation deutscher Gewerkschaften wurde deren Ohnmacht deutlich; während sie für einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € kämpfen, sind sie gleichzeitig zu Tarifabschlüssen weit unterhalb dieses Anspruchs gezwungen.

Einen etwas weitergehenden Weg stellte Eddie Follan mit der in Schottland verankerten Poverty Alliance vor; das Konzept des „Living wage“ geht über die Mindestlohnforderung hinaus. Arbeitslöhne hätten nicht nur das Überleben zu ermöglichen, sondern ein Leben in sozialer Stabilität und kultureller Teilhabe.
Diese Überzeugung führte zu einer starken Allianz von etwa 50 Aktionsträgern, die diese sozialpolitische Forderung in Gesellschaft und Politik tragen.

Die Diskussion dieses Beitrages zeigte

  • einerseits die Notwendigkeit und Erfolgschance breiter Aktionsbündnisse mit sozialpolitisch erreichbaren Zielen (etwa in Deutschland das Aktionsbündnis für den arbeitsfreien Sonntag)
  • andererseits den Bedarf an präzisersozialethischer Zielbeschreibung, die das sozialpolitisch Machbare übersteigt
    und die dahinter stehende Gerechtigkeitsforderung akzentuiert.

Die Forderung der Poverty Alliance nach „ausreichendem Lohn“ erweist sich so als Teilschritt auf den von Albertus Magnus und Thomas v. Aquin geforderten „gerechten Tausch“, der den vollen Ausgleich der erbrachten Arbeitsleistung und erwirkten Mehrwertes sichert.

Die Kommodifizierung der menschlichen Person auf die ökonomisch verwertbare Arbeitskraft reduziert den „wahren Menschen“ auf die Ware „Mensch“ und erweist sich als zentrale Herausforderung an eine humane Sozialethik und –politik.  Reicht die von der EU als Ziel für 2020 beschlossene „Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung? Oder bedeutet uns Armutsbekämpfung Beseitigung der Ursachen der Armut in allen Kontexten – individuell, sozial und strukturell?

Die nach langen, intensiven Diskussionen von Prälat Franz Hitze 1884 durchgesetzte Entscheidung des Zentralen Komitees deutscher Katholiken wirkt als Doktrin der Soziallehre und Sozialverbände bis in die heutige Zeit nach: die Lebenssituation der Arbeiter im grundsätzlich akzeptierten System profitorientierter Kapitalwirtschaft verbessern; die Arbeiter sind vor den Auswüchsen ungebändigten Kapitalismus zu schützen, der Kapitalismus auf ein humanverträgliches Maß zu bändigen.

130 Jahre später erleben wir endgültig den Misserfolg dieses Konzeptes und sind zur grundsätzlichen Neubesinnung und -orientierung gezwungen.

In den Diskussionen im Plenum und den Gesprächen am Rande der Tagung war immer wieder die Unschärfe und Vieldeutigkeit der verwendeten Begriffe erfahrbar. Ein hoher Nachholbedarf im „kleinen und großen 1×1 der Sozialethik“ wurde deutlich.

Exemplarisch die Diskussion um die Selbstdefinition der CARITAS CZECH REPUBLIC als „nonprofit apolitical NGO“. Hintergrund dieser gewählten Formulierung ist laut Jaromir Bílý die „historische Hypothek einer politischen Kirche aus der Zeit 1920-39“. Kann aber eine Organisation, die sich in der Armutsbekämpfung engagiert un-politisch sein? Ist eine Organisation, die politisch wirksam tätig wird, bereits eine „politische Organisation“?
Christliche Soziallehre spricht von „strukturellen Sünden“, wie geht die tschechische Caritas damit um? Sprach- und Übersetzungsprobleme ließen eine vertiefende Debatte an dieser Stelle nicht zu.

An verschiedenen Stellen wurde der Anspruch erhoben, Arbeit und Wirtschaft müssten „kulturell eingebettet“ werden. Die Verbände und Träger der Arbeitnehmerbildung stehen damit vor der Aufgabe, Konzepte zu entwickeln und auf eine Politik hinzuwirken,

  • die Staatsziele sozialethisch präzise begründet und demokratisch legitimiert
  • entsprechende gesellschaftliches Verhalten kulturell entfaltet und fördert
  • Normen, Regeln und Gesetze auf die vereinbarten Ziele ausrichtet
  • wirtschaftliche Rahmenbedingungen zur Förderung am Gemeinwohl orientierter unternehmerischer Tätigkeiten und Sanktionierung Gemeinwohl schädigender Tätigkeiten gestaltet.

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